Verhältniß zwischen Rechts- und Staatswissenschaften.
das Verbandsleben der Menschheit nicht aus dem Bedürfniß der Rechtsordnung erwachsen ist und daß der Staatswille nicht erst mit seinen Rechtsordnungen das Rechtsbewußtsein geschaffen hat.
So wird die andre Seite des Verhältnisses zwischen Rechts- und Staatswissenschaften sichtbar: jeder Begriff in jenen kann nur vermittelst der Begriffe in diesen entwickelt werden und um- gekehrt.
Die Untersuchung der beiden Seiten des Rechts in der all- gemeinen Rechtswissenschaft führt zu einem noch allgemeineren Problem, welches über das Recht hinausgreift. Der Zweck- zusammenhang, welchen das Recht enthält, hat sich vermittelst der einzelnen Gesammtwillen, in der Arbeit der einzelnen Völker, sonach geschichtlich entwickelt. Der Gegensatz des 18. Jahrhunderts, welches die geschichtlich gesellschaftliche Wirklichkeit in einen Inbegriff von natürlichen Systemen auflöste, die den Einwirkungen des ge- schichtlichen Pragmatismus unterliegen, und der historischen Schule des 19. Jahrhunderts, welche sich dieser Abstraktion entgegensetzte, aber, trotz ihres höheren Standpunktes, in Folge des Mangels einer wahrhaft empirischen Philosophie eine in Begriffen und Sätzen klare und so verwerthbare Erkenntniß der geschichtlich-ge- sellschaftlichen Wirklichkeit nicht erreichte, kann nur in einer Grund- legung der Geisteswissenschaften aufgehoben werden, welche den Standpunkt der Erfahrung, der unbefangenen Empirie auch gegen- über dem Empirismus durchführt. Von einer solchen Grund- legung aus können die Probleme, die am Recht hervortraten, sich einer Auflösung nähern: Fragen, die mit der Menschheit selber herangewachsen sind, welche schon im 5. Jahrhundert vor Christo die Geister beschäftigt haben und noch gegenwärtig die Jurisprudenz in verschiedene Heerlager theilen, andere Fragen, welche heute zwischen dem Geiste des 18. und dem des 19. Jahrhunderts schweben.
Jenseit dieser Wurzeln der menschlichen Existenz und des gesellschaftlichen Zusammenlebens treten dann Systeme und Verbände deutlicher auseinander. Die Religion, als ein System des Glaubens, ist in solchem Grade von dem Verbande ablösbar, in welchem sie wohnt, daß ein hervorragen-
Verhältniß zwiſchen Rechts- und Staatswiſſenſchaften.
das Verbandsleben der Menſchheit nicht aus dem Bedürfniß der Rechtsordnung erwachſen iſt und daß der Staatswille nicht erſt mit ſeinen Rechtsordnungen das Rechtsbewußtſein geſchaffen hat.
So wird die andre Seite des Verhältniſſes zwiſchen Rechts- und Staatswiſſenſchaften ſichtbar: jeder Begriff in jenen kann nur vermittelſt der Begriffe in dieſen entwickelt werden und um- gekehrt.
Die Unterſuchung der beiden Seiten des Rechts in der all- gemeinen Rechtswiſſenſchaft führt zu einem noch allgemeineren Problem, welches über das Recht hinausgreift. Der Zweck- zuſammenhang, welchen das Recht enthält, hat ſich vermittelſt der einzelnen Geſammtwillen, in der Arbeit der einzelnen Völker, ſonach geſchichtlich entwickelt. Der Gegenſatz des 18. Jahrhunderts, welches die geſchichtlich geſellſchaftliche Wirklichkeit in einen Inbegriff von natürlichen Syſtemen auflöſte, die den Einwirkungen des ge- ſchichtlichen Pragmatismus unterliegen, und der hiſtoriſchen Schule des 19. Jahrhunderts, welche ſich dieſer Abſtraktion entgegenſetzte, aber, trotz ihres höheren Standpunktes, in Folge des Mangels einer wahrhaft empiriſchen Philoſophie eine in Begriffen und Sätzen klare und ſo verwerthbare Erkenntniß der geſchichtlich-ge- ſellſchaftlichen Wirklichkeit nicht erreichte, kann nur in einer Grund- legung der Geiſteswiſſenſchaften aufgehoben werden, welche den Standpunkt der Erfahrung, der unbefangenen Empirie auch gegen- über dem Empirismus durchführt. Von einer ſolchen Grund- legung aus können die Probleme, die am Recht hervortraten, ſich einer Auflöſung nähern: Fragen, die mit der Menſchheit ſelber herangewachſen ſind, welche ſchon im 5. Jahrhundert vor Chriſto die Geiſter beſchäftigt haben und noch gegenwärtig die Jurisprudenz in verſchiedene Heerlager theilen, andere Fragen, welche heute zwiſchen dem Geiſte des 18. und dem des 19. Jahrhunderts ſchweben.
Jenſeit dieſer Wurzeln der menſchlichen Exiſtenz und des geſellſchaftlichen Zuſammenlebens treten dann Syſteme und Verbände deutlicher auseinander. Die Religion, als ein Syſtem des Glaubens, iſt in ſolchem Grade von dem Verbande ablösbar, in welchem ſie wohnt, daß ein hervorragen-
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Verhältniß zwiſchen Rechts- und Staatswiſſenſchaften.
das Verbandsleben der Menſchheit nicht aus dem Bedürfniß der
Rechtsordnung erwachſen iſt und daß der Staatswille nicht erſt
mit ſeinen Rechtsordnungen das Rechtsbewußtſein geſchaffen hat.
So wird die andre Seite des Verhältniſſes zwiſchen Rechts-
und Staatswiſſenſchaften ſichtbar: jeder Begriff in jenen kann
nur vermittelſt der Begriffe in dieſen entwickelt werden und um-
gekehrt.
Die Unterſuchung der beiden Seiten des Rechts in der all-
gemeinen Rechtswiſſenſchaft führt zu einem noch allgemeineren
Problem, welches über das Recht hinausgreift. Der Zweck-
zuſammenhang, welchen das Recht enthält, hat ſich vermittelſt
der einzelnen Geſammtwillen, in der Arbeit der einzelnen Völker,
ſonach geſchichtlich entwickelt. Der Gegenſatz des 18. Jahrhunderts,
welches die geſchichtlich geſellſchaftliche Wirklichkeit in einen Inbegriff
von natürlichen Syſtemen auflöſte, die den Einwirkungen des ge-
ſchichtlichen Pragmatismus unterliegen, und der hiſtoriſchen Schule
des 19. Jahrhunderts, welche ſich dieſer Abſtraktion entgegenſetzte,
aber, trotz ihres höheren Standpunktes, in Folge des Mangels
einer wahrhaft empiriſchen Philoſophie eine in Begriffen und
Sätzen klare und ſo verwerthbare Erkenntniß der geſchichtlich-ge-
ſellſchaftlichen Wirklichkeit nicht erreichte, kann nur in einer Grund-
legung der Geiſteswiſſenſchaften aufgehoben werden, welche den
Standpunkt der Erfahrung, der unbefangenen Empirie auch gegen-
über dem Empirismus durchführt. Von einer ſolchen Grund-
legung aus können die Probleme, die am Recht hervortraten, ſich
einer Auflöſung nähern: Fragen, die mit der Menſchheit ſelber
herangewachſen ſind, welche ſchon im 5. Jahrhundert vor Chriſto
die Geiſter beſchäftigt haben und noch gegenwärtig die Jurisprudenz
in verſchiedene Heerlager theilen, andere Fragen, welche heute zwiſchen
dem Geiſte des 18. und dem des 19. Jahrhunderts ſchweben.
Jenſeit dieſer Wurzeln der menſchlichen Exiſtenz und des
geſellſchaftlichen Zuſammenlebens treten dann Syſteme und
Verbände deutlicher auseinander. Die Religion,
als ein Syſtem des Glaubens, iſt in ſolchem Grade von dem
Verbande ablösbar, in welchem ſie wohnt, daß ein hervorragen-
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/124>, abgerufen am 27.11.2024.
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