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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
der und gläubiger Theologe der letzten Generation die Ange-
messenheit von kirchlichen Verbänden an unser gegenwärtiges
christliches Leben in Abrede stellen konnte. In Wissen-
schaft
und Kunst erreicht aber die Coordination von selb-
ständigen Einzelthätigkeiten einen solchen Grad von Ausbildung,
daß hinter ihrer Bedeutung die der Verbände, welche sich zur Ver-
wirklichung der künstlerischen und wissenschaftlichen Zwecke gebildet
haben, ganz zurücktritt; dem entsprechend entwickeln die Wissen-
schaften, welche diese Systeme zum Gegenstand haben, Aesthetik und
Wissenschaftslehre, ihr Objekt, ohne je solcher Verbände zu gedenken.

Solchergestalt hat eine ihrer selbst unbewußte Kunst der Ab-
straktion mit zunehmender Klarheit diese beiden Classen von Wissen-
schaften von einander gesondert. Dies that sie, obwohl naturgemäß
die Vorbildung des Einzelnen, seine Thätigkeit an den Verbänden
das Studium des Systems mit dem des Verbandes verknüpfte.

Aus diesen Darlegungen über das Verhältniß des Verbands
zum System entspringt schließlich eine methodisch wichtige Folgerung
in Bezug auf die Natur der Wissenschaften, welche die
äußere Organisation der Menschheit zu ihrem Objekt haben.

Die Wissenschaften der äußeren Organisation der Gesellschaft
haben so wenig als die von den Systemen der Kultur die concrete
Wirklichkeit selber zu ihrem Gegenstande. Alle Theorie erfaßt
nur Theilinhalte der complexen Wirklichkeit; die Theorien des ge-
schichtlich-gesellschaftlichen Lebens scheiden die unermeßlich verwickelte
Thatsächlichkeit, der sie sich nähern, um in sie einzudringen. So
hebt die Wissenschaft auch aus der Wirklichkeit des Lebens den
Verband als Gegenstand heraus. Eine Gruppe von Individuen,
die in einem Verbande verknüpft ist, geht niemals in diesem gänz-
lich auf. In dem modernen Leben ist in der Regel ein Mensch
Mitglied mehrerer Verbände, welche einander nicht einfach unter-
geordnet sind. Aber auch wenn ein Mensch nur Einem Verbande
angehörte: sein ganzes Wesen geht doch in denselben nicht ein.
Denkt man sich den ältesten Familienverband, so hat man den ele-
mentaren socialen Körper vor sich, die concentrirteste Form von
Willenseinheit, die unter Menschen denkbar ist. Und doch ist

Erſtes einleitendes Buch.
der und gläubiger Theologe der letzten Generation die Ange-
meſſenheit von kirchlichen Verbänden an unſer gegenwärtiges
chriſtliches Leben in Abrede ſtellen konnte. In Wiſſen-
ſchaft
und Kunſt erreicht aber die Coordination von ſelb-
ſtändigen Einzelthätigkeiten einen ſolchen Grad von Ausbildung,
daß hinter ihrer Bedeutung die der Verbände, welche ſich zur Ver-
wirklichung der künſtleriſchen und wiſſenſchaftlichen Zwecke gebildet
haben, ganz zurücktritt; dem entſprechend entwickeln die Wiſſen-
ſchaften, welche dieſe Syſteme zum Gegenſtand haben, Aeſthetik und
Wiſſenſchaftslehre, ihr Objekt, ohne je ſolcher Verbände zu gedenken.

Solchergeſtalt hat eine ihrer ſelbſt unbewußte Kunſt der Ab-
ſtraktion mit zunehmender Klarheit dieſe beiden Claſſen von Wiſſen-
ſchaften von einander geſondert. Dies that ſie, obwohl naturgemäß
die Vorbildung des Einzelnen, ſeine Thätigkeit an den Verbänden
das Studium des Syſtems mit dem des Verbandes verknüpfte.

Aus dieſen Darlegungen über das Verhältniß des Verbands
zum Syſtem entſpringt ſchließlich eine methodiſch wichtige Folgerung
in Bezug auf die Natur der Wiſſenſchaften, welche die
äußere Organiſation der Menſchheit zu ihrem Objekt haben.

Die Wiſſenſchaften der äußeren Organiſation der Geſellſchaft
haben ſo wenig als die von den Syſtemen der Kultur die concrete
Wirklichkeit ſelber zu ihrem Gegenſtande. Alle Theorie erfaßt
nur Theilinhalte der complexen Wirklichkeit; die Theorien des ge-
ſchichtlich-geſellſchaftlichen Lebens ſcheiden die unermeßlich verwickelte
Thatſächlichkeit, der ſie ſich nähern, um in ſie einzudringen. So
hebt die Wiſſenſchaft auch aus der Wirklichkeit des Lebens den
Verband als Gegenſtand heraus. Eine Gruppe von Individuen,
die in einem Verbande verknüpft iſt, geht niemals in dieſem gänz-
lich auf. In dem modernen Leben iſt in der Regel ein Menſch
Mitglied mehrerer Verbände, welche einander nicht einfach unter-
geordnet ſind. Aber auch wenn ein Menſch nur Einem Verbande
angehörte: ſein ganzes Weſen geht doch in denſelben nicht ein.
Denkt man ſich den älteſten Familienverband, ſo hat man den ele-
mentaren ſocialen Körper vor ſich, die concentrirteſte Form von
Willenseinheit, die unter Menſchen denkbar iſt. Und doch iſt

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[102/0125] Erſtes einleitendes Buch. der und gläubiger Theologe der letzten Generation die Ange- meſſenheit von kirchlichen Verbänden an unſer gegenwärtiges chriſtliches Leben in Abrede ſtellen konnte. In Wiſſen- ſchaft und Kunſt erreicht aber die Coordination von ſelb- ſtändigen Einzelthätigkeiten einen ſolchen Grad von Ausbildung, daß hinter ihrer Bedeutung die der Verbände, welche ſich zur Ver- wirklichung der künſtleriſchen und wiſſenſchaftlichen Zwecke gebildet haben, ganz zurücktritt; dem entſprechend entwickeln die Wiſſen- ſchaften, welche dieſe Syſteme zum Gegenſtand haben, Aeſthetik und Wiſſenſchaftslehre, ihr Objekt, ohne je ſolcher Verbände zu gedenken. Solchergeſtalt hat eine ihrer ſelbſt unbewußte Kunſt der Ab- ſtraktion mit zunehmender Klarheit dieſe beiden Claſſen von Wiſſen- ſchaften von einander geſondert. Dies that ſie, obwohl naturgemäß die Vorbildung des Einzelnen, ſeine Thätigkeit an den Verbänden das Studium des Syſtems mit dem des Verbandes verknüpfte. Aus dieſen Darlegungen über das Verhältniß des Verbands zum Syſtem entſpringt ſchließlich eine methodiſch wichtige Folgerung in Bezug auf die Natur der Wiſſenſchaften, welche die äußere Organiſation der Menſchheit zu ihrem Objekt haben. Die Wiſſenſchaften der äußeren Organiſation der Geſellſchaft haben ſo wenig als die von den Syſtemen der Kultur die concrete Wirklichkeit ſelber zu ihrem Gegenſtande. Alle Theorie erfaßt nur Theilinhalte der complexen Wirklichkeit; die Theorien des ge- ſchichtlich-geſellſchaftlichen Lebens ſcheiden die unermeßlich verwickelte Thatſächlichkeit, der ſie ſich nähern, um in ſie einzudringen. So hebt die Wiſſenſchaft auch aus der Wirklichkeit des Lebens den Verband als Gegenſtand heraus. Eine Gruppe von Individuen, die in einem Verbande verknüpft iſt, geht niemals in dieſem gänz- lich auf. In dem modernen Leben iſt in der Regel ein Menſch Mitglied mehrerer Verbände, welche einander nicht einfach unter- geordnet ſind. Aber auch wenn ein Menſch nur Einem Verbande angehörte: ſein ganzes Weſen geht doch in denſelben nicht ein. Denkt man ſich den älteſten Familienverband, ſo hat man den ele- mentaren ſocialen Körper vor ſich, die concentrirteſte Form von Willenseinheit, die unter Menſchen denkbar iſt. Und doch iſt

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 102. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/125>, abgerufen am 27.11.2024.