Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Staat nicht ein Ausschnitt der Wirklichkeit, sondern ein Theilinhalt. auch in ihr die Vereinigung der Willen nur relativ; die Indivi-duen, aus denen sie sich zusammenfügt, gehen nicht gänzlich in sie als in ihre Einheit auf. Das, was die Anschauung als Land, Volk und Staat unwillkürlich räumlich abgrenzt, und so als eine volle Wirklichkeit bei dem Namen Deutschland oder Frankreich vorstellt, ist nicht der Staat, ist nicht der Gegenstand der Staats- wissenschaften. So tief auch die starke Hand des Staats in die Lebenseinheit des Individuums, dieses an sich reißend, greift: der Staat verbindet und unterwirft die Individuen nur theilweise, nur relativ: Etwas in ihnen ist, das nur in der Hand Gottes ist. So vieles auch die Staatswissenschaften von den Bedingungen dieser Willenseinheit einbegreifen: direkt haben sie es nur mit einer in der Abstraktion allein darstellbaren Theilthatsache zu thun, und von der Realität, welche die auf einem Territorium lebenden Menschen bilden, lassen sie einen Rückstand von sehr großer Er- heblichkeit zurück. Die Staatsgewalt selber umfaßt nur ein be- stimmtes dem Staatszweck unterworfenes Quantum der gesammten Volkskraft, das freilich größer sein muß als irgend eine andere Kraft auf seinem Territorium, welches aber das ihm nothwendige Machtübergewicht nur durch seine Organisation und durch die Mitwirkung von psychologischen Motiven empfängt1). Innerhalb der äußeren Organisation ist neuerdings vom 1) Diese Auffassung, welche von der im Begriff des Staats vollzogenen
Abstraktion ausgeht, findet sich in Uebereinstimmung mit der aus besonnener Empirie, wie sie ihm eigen war, geschöpften Begriffsbestimmung Mohls: "Der Staat ist ein dauernder einheitlicher Organismus derjenigen Ein- richtungen, welche, geleitet durch einen Gesammtwillen, sowie auf- rechterhalten und durchgeführt durch eine Gesammtkraft, die Aufgabe haben, die jeweiligen erlaubten Lebenszwecke eines bestimmten und räumlich abgeschlossenen Volkes, und zwar vom Einzelnen bis zur Gesellschaft, zu fördern, soweit von den Betreffenden nicht dieselben mit eigenen Kräften befriedigt werden können und sie Gegenstand eines gemeinsamen Bedürfnisses sind." Aus dieser Definition folgt, daß die Staatswissenschaft den Theil- inhalt der Wirklichkeit, welchen sie zum Gegenstand hat, nur in der Bezieh- ung auf diese Wirklichkeit auffassen kann. Staat nicht ein Ausſchnitt der Wirklichkeit, ſondern ein Theilinhalt. auch in ihr die Vereinigung der Willen nur relativ; die Indivi-duen, aus denen ſie ſich zuſammenfügt, gehen nicht gänzlich in ſie als in ihre Einheit auf. Das, was die Anſchauung als Land, Volk und Staat unwillkürlich räumlich abgrenzt, und ſo als eine volle Wirklichkeit bei dem Namen Deutſchland oder Frankreich vorſtellt, iſt nicht der Staat, iſt nicht der Gegenſtand der Staats- wiſſenſchaften. So tief auch die ſtarke Hand des Staats in die Lebenseinheit des Individuums, dieſes an ſich reißend, greift: der Staat verbindet und unterwirft die Individuen nur theilweiſe, nur relativ: Etwas in ihnen iſt, das nur in der Hand Gottes iſt. So vieles auch die Staatswiſſenſchaften von den Bedingungen dieſer Willenseinheit einbegreifen: direkt haben ſie es nur mit einer in der Abſtraktion allein darſtellbaren Theilthatſache zu thun, und von der Realität, welche die auf einem Territorium lebenden Menſchen bilden, laſſen ſie einen Rückſtand von ſehr großer Er- heblichkeit zurück. Die Staatsgewalt ſelber umfaßt nur ein be- ſtimmtes dem Staatszweck unterworfenes Quantum der geſammten Volkskraft, das freilich größer ſein muß als irgend eine andere Kraft auf ſeinem Territorium, welches aber das ihm nothwendige Machtübergewicht nur durch ſeine Organiſation und durch die Mitwirkung von pſychologiſchen Motiven empfängt1). Innerhalb der äußeren Organiſation iſt neuerdings vom 1) Dieſe Auffaſſung, welche von der im Begriff des Staats vollzogenen
Abſtraktion ausgeht, findet ſich in Uebereinſtimmung mit der aus beſonnener Empirie, wie ſie ihm eigen war, geſchöpften Begriffsbeſtimmung Mohls: „Der Staat iſt ein dauernder einheitlicher Organismus derjenigen Ein- richtungen, welche, geleitet durch einen Geſammtwillen, ſowie auf- rechterhalten und durchgeführt durch eine Geſammtkraft, die Aufgabe haben, die jeweiligen erlaubten Lebenszwecke eines beſtimmten und räumlich abgeſchloſſenen Volkes, und zwar vom Einzelnen bis zur Geſellſchaft, zu fördern, ſoweit von den Betreffenden nicht dieſelben mit eigenen Kräften befriedigt werden können und ſie Gegenſtand eines gemeinſamen Bedürfniſſes ſind.“ Aus dieſer Definition folgt, daß die Staatswiſſenſchaft den Theil- inhalt der Wirklichkeit, welchen ſie zum Gegenſtand hat, nur in der Bezieh- ung auf dieſe Wirklichkeit auffaſſen kann. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0126" n="103"/><fw place="top" type="header">Staat nicht ein Ausſchnitt der Wirklichkeit, ſondern ein Theilinhalt.</fw><lb/> auch in ihr die Vereinigung der Willen nur relativ; die Indivi-<lb/> duen, aus denen ſie ſich zuſammenfügt, gehen nicht gänzlich in ſie<lb/> als in ihre Einheit auf. Das, was die Anſchauung als Land,<lb/> Volk und Staat unwillkürlich räumlich abgrenzt, und ſo als eine<lb/> volle Wirklichkeit bei dem Namen Deutſchland oder Frankreich<lb/> vorſtellt, iſt nicht der Staat, iſt nicht der Gegenſtand der Staats-<lb/> wiſſenſchaften. So tief auch die ſtarke Hand des Staats in die<lb/> Lebenseinheit des Individuums, dieſes an ſich reißend, greift: der<lb/> Staat verbindet und unterwirft die Individuen nur theilweiſe,<lb/> nur relativ: Etwas in ihnen iſt, das nur in der Hand Gottes<lb/> iſt. So vieles auch die Staatswiſſenſchaften von den Bedingungen<lb/> dieſer Willenseinheit einbegreifen: direkt haben ſie es nur mit einer<lb/> in der Abſtraktion allein darſtellbaren Theilthatſache zu thun, und<lb/> von der Realität, welche die auf einem Territorium lebenden<lb/> Menſchen bilden, laſſen ſie einen Rückſtand von ſehr großer Er-<lb/> heblichkeit zurück. Die Staatsgewalt ſelber umfaßt nur ein be-<lb/> ſtimmtes dem Staatszweck unterworfenes Quantum der geſammten<lb/> Volkskraft, das freilich größer ſein muß als irgend eine andere<lb/> Kraft auf ſeinem Territorium, welches aber das ihm nothwendige<lb/> Machtübergewicht nur durch ſeine Organiſation und durch die<lb/> Mitwirkung von pſychologiſchen Motiven empfängt<note place="foot" n="1)">Dieſe Auffaſſung, welche von der im Begriff des Staats vollzogenen<lb/> Abſtraktion ausgeht, findet ſich in Uebereinſtimmung mit der aus beſonnener<lb/> Empirie, wie ſie ihm eigen war, geſchöpften Begriffsbeſtimmung Mohls:<lb/> „Der Staat iſt ein dauernder einheitlicher Organismus derjenigen <hi rendition="#g">Ein-<lb/> richtungen</hi>, welche, geleitet durch einen <hi rendition="#g">Geſammtwillen</hi>, ſowie auf-<lb/> rechterhalten und durchgeführt durch eine <hi rendition="#g">Geſammtkraft</hi>, die Aufgabe<lb/> haben, die jeweiligen erlaubten Lebenszwecke eines beſtimmten und räumlich<lb/> abgeſchloſſenen Volkes, und zwar vom Einzelnen bis zur Geſellſchaft, zu<lb/> fördern, ſoweit von den Betreffenden nicht dieſelben mit eigenen Kräften<lb/> befriedigt werden können und ſie Gegenſtand eines gemeinſamen Bedürfniſſes<lb/> ſind.“ Aus dieſer Definition folgt, daß die Staatswiſſenſchaft den Theil-<lb/> inhalt der Wirklichkeit, welchen ſie zum Gegenſtand hat, nur in der Bezieh-<lb/> ung auf dieſe Wirklichkeit auffaſſen kann.</note>.</p><lb/> <p>Innerhalb der äußeren Organiſation iſt neuerdings <hi rendition="#g">vom<lb/> Staat die Geſellſchaft</hi> (das Wort in einem engeren Ver-<lb/> ſtande gefaßt) <hi rendition="#g">unterſchieden</hi> worden.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [103/0126]
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auch in ihr die Vereinigung der Willen nur relativ; die Indivi-
duen, aus denen ſie ſich zuſammenfügt, gehen nicht gänzlich in ſie
als in ihre Einheit auf. Das, was die Anſchauung als Land,
Volk und Staat unwillkürlich räumlich abgrenzt, und ſo als eine
volle Wirklichkeit bei dem Namen Deutſchland oder Frankreich
vorſtellt, iſt nicht der Staat, iſt nicht der Gegenſtand der Staats-
wiſſenſchaften. So tief auch die ſtarke Hand des Staats in die
Lebenseinheit des Individuums, dieſes an ſich reißend, greift: der
Staat verbindet und unterwirft die Individuen nur theilweiſe,
nur relativ: Etwas in ihnen iſt, das nur in der Hand Gottes
iſt. So vieles auch die Staatswiſſenſchaften von den Bedingungen
dieſer Willenseinheit einbegreifen: direkt haben ſie es nur mit einer
in der Abſtraktion allein darſtellbaren Theilthatſache zu thun, und
von der Realität, welche die auf einem Territorium lebenden
Menſchen bilden, laſſen ſie einen Rückſtand von ſehr großer Er-
heblichkeit zurück. Die Staatsgewalt ſelber umfaßt nur ein be-
ſtimmtes dem Staatszweck unterworfenes Quantum der geſammten
Volkskraft, das freilich größer ſein muß als irgend eine andere
Kraft auf ſeinem Territorium, welches aber das ihm nothwendige
Machtübergewicht nur durch ſeine Organiſation und durch die
Mitwirkung von pſychologiſchen Motiven empfängt 1).
Innerhalb der äußeren Organiſation iſt neuerdings vom
Staat die Geſellſchaft (das Wort in einem engeren Ver-
ſtande gefaßt) unterſchieden worden.
1) Dieſe Auffaſſung, welche von der im Begriff des Staats vollzogenen
Abſtraktion ausgeht, findet ſich in Uebereinſtimmung mit der aus beſonnener
Empirie, wie ſie ihm eigen war, geſchöpften Begriffsbeſtimmung Mohls:
„Der Staat iſt ein dauernder einheitlicher Organismus derjenigen Ein-
richtungen, welche, geleitet durch einen Geſammtwillen, ſowie auf-
rechterhalten und durchgeführt durch eine Geſammtkraft, die Aufgabe
haben, die jeweiligen erlaubten Lebenszwecke eines beſtimmten und räumlich
abgeſchloſſenen Volkes, und zwar vom Einzelnen bis zur Geſellſchaft, zu
fördern, ſoweit von den Betreffenden nicht dieſelben mit eigenen Kräften
befriedigt werden können und ſie Gegenſtand eines gemeinſamen Bedürfniſſes
ſind.“ Aus dieſer Definition folgt, daß die Staatswiſſenſchaft den Theil-
inhalt der Wirklichkeit, welchen ſie zum Gegenſtand hat, nur in der Bezieh-
ung auf dieſe Wirklichkeit auffaſſen kann.
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