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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Philosophie d. Geschichte u. Sociologie beanspruchen sie zu erkennen.
Gottes empfangen hat, steht sie noch heute. Der Ursprung der
anderen lag in den Erschütterungen der europäischen Gesellschaft
seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts; eine neue Organi-
sation der Gesellschaft sollte unter der Leitung des im 18. Jahr-
hundert mächtig herangewachsenen wissenschaftlichen Geistes sich
vollziehen; von diesem Bedürfniß aus sollte der Zusammenhang
des ganzen Systems der wissenschaftlichen Wahrheiten, von der
Mathematik aufwärts, festgestellt und als ihr letztes Glied die
neue erlösende Wissenschaft der Gesellschaft begründet werden;
Condorcet und Saint-Simon waren die Vorläufer, Comte der
Begründer dieser umfassenden Wissenschaft der Gesellschaft, Stuart
Mill ihr Logiker, in Herbert Spencers ausführlicher Darstellung
beginnt sie die Phantasien, welche ihre ungestüme Jugend bewegt
haben, abzuthun 1).

Gewiß, ein armseliger Glaube wäre es, die Weise, in der
es der Kunst des Geschichtschreibers (wie wir sahen) gegeben ist,
das Allgemeine des Zusammenhangs menschlicher Dinge im Be-
sonderen zu schauen, sei die einzige und ausschließliche Form. in
welcher der Zusammenhang dieser unermeßlichen geschichtlich-gesell-

1) Von Saint-Simon können mit Sicherheit folgende Gedanken
in der Sociologie Comte's abgeleitet werden: der Begriff der Gesellschaft,
im Unterschied von dem des Staates, als einer von den Grenzen der Staaten
nicht eingeschränkten Gemeinschaft; vgl. seine Schrift: Reorganisation de la
societe europeenne, ou de la necessite et des moyens de rassembler les
peuples de l'Europe en un seul corps politique, en conservant a chacun
sa nationalite
(in Gemeinschaft mit Augustin Thierry verfaßt) 1814; dann
der Gedanke einer nach der Zersetzung der Gesellschaft nunmehr nothwendigen
Organisation derselben, vermittelst einer leitenden geistigen Macht, welche als
Philosophie der positiven Wissenschaften die Verkettung der Wahrheiten in
diesen Wissenschaften aufzufinden und aus ihr die Socialwissenschaften abzu-
leiten habe; vgl. Nouvelle Encyclopedie 1810, sowie das Memoire über
dieselbe etc.; endlich ist der Plan, nach welchem er seit 1797 zuerst die mathe-
matisch-physikalischen Wissenschaften in der polytechnischen Schule studirte,
dann die biologischen in der medicinischen Schule von seinem Mitarbeiter
und Schüler Comte dann wirklich in wissenschaftlichem Geiste durchgeführt
worden. Comte verband mit dieser Grundlage Turgot's seit 1750 ent-
wickelte Theorie von den drei Stadien der Intelligenz und de Maistre's
Theorie von der Nothwendigkeit einer im Gegensatz zu der zersetzenden Tendenz
des Protestantismus die Gesellschaft zusammenhaltenden geistlichen Gewalt.
Dilthey, Einleitung. 8

Philoſophie d. Geſchichte u. Sociologie beanſpruchen ſie zu erkennen.
Gottes empfangen hat, ſteht ſie noch heute. Der Urſprung der
anderen lag in den Erſchütterungen der europäiſchen Geſellſchaft
ſeit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts; eine neue Organi-
ſation der Geſellſchaft ſollte unter der Leitung des im 18. Jahr-
hundert mächtig herangewachſenen wiſſenſchaftlichen Geiſtes ſich
vollziehen; von dieſem Bedürfniß aus ſollte der Zuſammenhang
des ganzen Syſtems der wiſſenſchaftlichen Wahrheiten, von der
Mathematik aufwärts, feſtgeſtellt und als ihr letztes Glied die
neue erlöſende Wiſſenſchaft der Geſellſchaft begründet werden;
Condorcet und Saint-Simon waren die Vorläufer, Comte der
Begründer dieſer umfaſſenden Wiſſenſchaft der Geſellſchaft, Stuart
Mill ihr Logiker, in Herbert Spencers ausführlicher Darſtellung
beginnt ſie die Phantaſien, welche ihre ungeſtüme Jugend bewegt
haben, abzuthun 1).

Gewiß, ein armſeliger Glaube wäre es, die Weiſe, in der
es der Kunſt des Geſchichtſchreibers (wie wir ſahen) gegeben iſt,
das Allgemeine des Zuſammenhangs menſchlicher Dinge im Be-
ſonderen zu ſchauen, ſei die einzige und ausſchließliche Form. in
welcher der Zuſammenhang dieſer unermeßlichen geſchichtlich-geſell-

1) Von Saint-Simon können mit Sicherheit folgende Gedanken
in der Sociologie Comte’s abgeleitet werden: der Begriff der Geſellſchaft,
im Unterſchied von dem des Staates, als einer von den Grenzen der Staaten
nicht eingeſchränkten Gemeinſchaft; vgl. ſeine Schrift: Réorganisation de la
société européenne, ou de la nécessité et des moyens de rassembler les
peuples de l’Europe en un seul corps politique, en conservant à chacun
sa nationalité
(in Gemeinſchaft mit Auguſtin Thierry verfaßt) 1814; dann
der Gedanke einer nach der Zerſetzung der Geſellſchaft nunmehr nothwendigen
Organiſation derſelben, vermittelſt einer leitenden geiſtigen Macht, welche als
Philoſophie der poſitiven Wiſſenſchaften die Verkettung der Wahrheiten in
dieſen Wiſſenſchaften aufzufinden und aus ihr die Socialwiſſenſchaften abzu-
leiten habe; vgl. Nouvelle Encyclopédie 1810, ſowie das Memoire über
dieſelbe etc.; endlich iſt der Plan, nach welchem er ſeit 1797 zuerſt die mathe-
matiſch-phyſikaliſchen Wiſſenſchaften in der polytechniſchen Schule ſtudirte,
dann die biologiſchen in der mediciniſchen Schule von ſeinem Mitarbeiter
und Schüler Comte dann wirklich in wiſſenſchaftlichem Geiſte durchgeführt
worden. Comte verband mit dieſer Grundlage Turgot’s ſeit 1750 ent-
wickelte Theorie von den drei Stadien der Intelligenz und de Maiſtre’s
Theorie von der Nothwendigkeit einer im Gegenſatz zu der zerſetzenden Tendenz
des Proteſtantismus die Geſellſchaft zuſammenhaltenden geiſtlichen Gewalt.
Dilthey, Einleitung. 8
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[113/0136] Philoſophie d. Geſchichte u. Sociologie beanſpruchen ſie zu erkennen. Gottes empfangen hat, ſteht ſie noch heute. Der Urſprung der anderen lag in den Erſchütterungen der europäiſchen Geſellſchaft ſeit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts; eine neue Organi- ſation der Geſellſchaft ſollte unter der Leitung des im 18. Jahr- hundert mächtig herangewachſenen wiſſenſchaftlichen Geiſtes ſich vollziehen; von dieſem Bedürfniß aus ſollte der Zuſammenhang des ganzen Syſtems der wiſſenſchaftlichen Wahrheiten, von der Mathematik aufwärts, feſtgeſtellt und als ihr letztes Glied die neue erlöſende Wiſſenſchaft der Geſellſchaft begründet werden; Condorcet und Saint-Simon waren die Vorläufer, Comte der Begründer dieſer umfaſſenden Wiſſenſchaft der Geſellſchaft, Stuart Mill ihr Logiker, in Herbert Spencers ausführlicher Darſtellung beginnt ſie die Phantaſien, welche ihre ungeſtüme Jugend bewegt haben, abzuthun 1). Gewiß, ein armſeliger Glaube wäre es, die Weiſe, in der es der Kunſt des Geſchichtſchreibers (wie wir ſahen) gegeben iſt, das Allgemeine des Zuſammenhangs menſchlicher Dinge im Be- ſonderen zu ſchauen, ſei die einzige und ausſchließliche Form. in welcher der Zuſammenhang dieſer unermeßlichen geſchichtlich-geſell- 1) Von Saint-Simon können mit Sicherheit folgende Gedanken in der Sociologie Comte’s abgeleitet werden: der Begriff der Geſellſchaft, im Unterſchied von dem des Staates, als einer von den Grenzen der Staaten nicht eingeſchränkten Gemeinſchaft; vgl. ſeine Schrift: Réorganisation de la société européenne, ou de la nécessité et des moyens de rassembler les peuples de l’Europe en un seul corps politique, en conservant à chacun sa nationalité (in Gemeinſchaft mit Auguſtin Thierry verfaßt) 1814; dann der Gedanke einer nach der Zerſetzung der Geſellſchaft nunmehr nothwendigen Organiſation derſelben, vermittelſt einer leitenden geiſtigen Macht, welche als Philoſophie der poſitiven Wiſſenſchaften die Verkettung der Wahrheiten in dieſen Wiſſenſchaften aufzufinden und aus ihr die Socialwiſſenſchaften abzu- leiten habe; vgl. Nouvelle Encyclopédie 1810, ſowie das Memoire über dieſelbe etc.; endlich iſt der Plan, nach welchem er ſeit 1797 zuerſt die mathe- matiſch-phyſikaliſchen Wiſſenſchaften in der polytechniſchen Schule ſtudirte, dann die biologiſchen in der mediciniſchen Schule von ſeinem Mitarbeiter und Schüler Comte dann wirklich in wiſſenſchaftlichem Geiſte durchgeführt worden. Comte verband mit dieſer Grundlage Turgot’s ſeit 1750 ent- wickelte Theorie von den drei Stadien der Intelligenz und de Maiſtre’s Theorie von der Nothwendigkeit einer im Gegenſatz zu der zerſetzenden Tendenz des Proteſtantismus die Geſellſchaft zuſammenhaltenden geiſtlichen Gewalt. Dilthey, Einleitung. 8

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/136>, abgerufen am 27.11.2024.