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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
schaftlichen Welt für uns da ist. -- Immer wird in dieser künstle-
rischen Darstellung
eine große Aufgabe der Geschicht-
schreibung
bestehen, welche durch die Generalisationswuth einiger
neueren englischen und französischen Forscher nicht entwerthet werden
kann. Denn wir wollen Wirklichkeit gewahr werden, und der
Verlauf der erkenntnißtheoretischen Untersuchung wird zeigen, daß
sie, wie sie ist, in ihrer durch kein Medium veränderten That-
sächlichkeit, nur in dieser Welt des Geistes für uns besteht. Und
zwar liegt für unser Anschauen in allem Menschlichen ein Interesse
nicht des Vorstellens allein, sondern des Gemüths, der Mitempfin-
dung, des Enthusiasmus, in welchem Goethe mit Recht die schönste
Frucht geschichtlicher Betrachtung sah. Hingebung macht das Innere
des wahren congenialen Historikers zu einem Universum, welches die
ganze geschichtliche Welt abspiegelt. In diesem Universum sittlicher
Kräfte hat das Einmalige und Singulare eine ganz andere Bedeu-
tung als in der äußeren Natur. Seine Erfassung ist nicht Mittel,
sondern Selbstzweck: denn das Bedürfniß, auf dem sie beruht,
ist unvertilgbar und mit dem Höchsten in unserem Wesen gegeben.
Daher haftet auch der Blick des Geschichtschreibers mit einer natür-
lichen Vorliebe an dem Außerordentlichen. Ohne es zu wollen,
ja oft ohne es zu wissen vollzieht auch Er beständig eine Abstrak-
tion. Denn das Auge desselben verliert für die Theile des That-
bestandes, welche in allen geschichtlichen Erscheinungen wieder-
kehren, die frische Empfänglichkeit, wie die Wirkung eines Ein-
druckes, der eine bestimmte Stelle der Netzhaut anhaltend trifft,
sich abstumpft. Es bedurfte der philanthropischen Beweggründe
des 18. Jahrhunderts, um das Alltägliche, allen Gemeinsame in
einem Zeitalter, die "Sitten", wie sich Voltaire ausdrückt, sowie die
Veränderungen, welche in Bezug auf dieses stattfinden, neben dem
Außerordentlichen, den Handlungen der Könige und den Schick-
salen der Staaten, wieder recht sichtbar zu machen. Und der
Untergrund des zu allen Zeiten Gleichen in der menschlichen Natur
und dem Weltleben tritt überhaupt nicht in die künstlerische Ge-
schichtsdarstellung. Auch sie also beruht auf einer Abstraktion.
Aber dieselbe ist unwillkürlich, und da sie aus den stärksten Be-

Erſtes einleitendes Buch.
ſchaftlichen Welt für uns da iſt. — Immer wird in dieſer künſtle-
riſchen Darſtellung
eine große Aufgabe der Geſchicht-
ſchreibung
beſtehen, welche durch die Generaliſationswuth einiger
neueren engliſchen und franzöſiſchen Forſcher nicht entwerthet werden
kann. Denn wir wollen Wirklichkeit gewahr werden, und der
Verlauf der erkenntnißtheoretiſchen Unterſuchung wird zeigen, daß
ſie, wie ſie iſt, in ihrer durch kein Medium veränderten That-
ſächlichkeit, nur in dieſer Welt des Geiſtes für uns beſteht. Und
zwar liegt für unſer Anſchauen in allem Menſchlichen ein Intereſſe
nicht des Vorſtellens allein, ſondern des Gemüths, der Mitempfin-
dung, des Enthuſiasmus, in welchem Goethe mit Recht die ſchönſte
Frucht geſchichtlicher Betrachtung ſah. Hingebung macht das Innere
des wahren congenialen Hiſtorikers zu einem Univerſum, welches die
ganze geſchichtliche Welt abſpiegelt. In dieſem Univerſum ſittlicher
Kräfte hat das Einmalige und Singulare eine ganz andere Bedeu-
tung als in der äußeren Natur. Seine Erfaſſung iſt nicht Mittel,
ſondern Selbſtzweck: denn das Bedürfniß, auf dem ſie beruht,
iſt unvertilgbar und mit dem Höchſten in unſerem Weſen gegeben.
Daher haftet auch der Blick des Geſchichtſchreibers mit einer natür-
lichen Vorliebe an dem Außerordentlichen. Ohne es zu wollen,
ja oft ohne es zu wiſſen vollzieht auch Er beſtändig eine Abſtrak-
tion. Denn das Auge deſſelben verliert für die Theile des That-
beſtandes, welche in allen geſchichtlichen Erſcheinungen wieder-
kehren, die friſche Empfänglichkeit, wie die Wirkung eines Ein-
druckes, der eine beſtimmte Stelle der Netzhaut anhaltend trifft,
ſich abſtumpft. Es bedurfte der philanthropiſchen Beweggründe
des 18. Jahrhunderts, um das Alltägliche, allen Gemeinſame in
einem Zeitalter, die „Sitten“, wie ſich Voltaire ausdrückt, ſowie die
Veränderungen, welche in Bezug auf dieſes ſtattfinden, neben dem
Außerordentlichen, den Handlungen der Könige und den Schick-
ſalen der Staaten, wieder recht ſichtbar zu machen. Und der
Untergrund des zu allen Zeiten Gleichen in der menſchlichen Natur
und dem Weltleben tritt überhaupt nicht in die künſtleriſche Ge-
ſchichtsdarſtellung. Auch ſie alſo beruht auf einer Abſtraktion.
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[114/0137] Erſtes einleitendes Buch. ſchaftlichen Welt für uns da iſt. — Immer wird in dieſer künſtle- riſchen Darſtellung eine große Aufgabe der Geſchicht- ſchreibung beſtehen, welche durch die Generaliſationswuth einiger neueren engliſchen und franzöſiſchen Forſcher nicht entwerthet werden kann. Denn wir wollen Wirklichkeit gewahr werden, und der Verlauf der erkenntnißtheoretiſchen Unterſuchung wird zeigen, daß ſie, wie ſie iſt, in ihrer durch kein Medium veränderten That- ſächlichkeit, nur in dieſer Welt des Geiſtes für uns beſteht. Und zwar liegt für unſer Anſchauen in allem Menſchlichen ein Intereſſe nicht des Vorſtellens allein, ſondern des Gemüths, der Mitempfin- dung, des Enthuſiasmus, in welchem Goethe mit Recht die ſchönſte Frucht geſchichtlicher Betrachtung ſah. Hingebung macht das Innere des wahren congenialen Hiſtorikers zu einem Univerſum, welches die ganze geſchichtliche Welt abſpiegelt. In dieſem Univerſum ſittlicher Kräfte hat das Einmalige und Singulare eine ganz andere Bedeu- tung als in der äußeren Natur. Seine Erfaſſung iſt nicht Mittel, ſondern Selbſtzweck: denn das Bedürfniß, auf dem ſie beruht, iſt unvertilgbar und mit dem Höchſten in unſerem Weſen gegeben. Daher haftet auch der Blick des Geſchichtſchreibers mit einer natür- lichen Vorliebe an dem Außerordentlichen. Ohne es zu wollen, ja oft ohne es zu wiſſen vollzieht auch Er beſtändig eine Abſtrak- tion. Denn das Auge deſſelben verliert für die Theile des That- beſtandes, welche in allen geſchichtlichen Erſcheinungen wieder- kehren, die friſche Empfänglichkeit, wie die Wirkung eines Ein- druckes, der eine beſtimmte Stelle der Netzhaut anhaltend trifft, ſich abſtumpft. Es bedurfte der philanthropiſchen Beweggründe des 18. Jahrhunderts, um das Alltägliche, allen Gemeinſame in einem Zeitalter, die „Sitten“, wie ſich Voltaire ausdrückt, ſowie die Veränderungen, welche in Bezug auf dieſes ſtattfinden, neben dem Außerordentlichen, den Handlungen der Könige und den Schick- ſalen der Staaten, wieder recht ſichtbar zu machen. Und der Untergrund des zu allen Zeiten Gleichen in der menſchlichen Natur und dem Weltleben tritt überhaupt nicht in die künſtleriſche Ge- ſchichtsdarſtellung. Auch ſie alſo beruht auf einer Abſtraktion. Aber dieſelbe iſt unwillkürlich, und da ſie aus den ſtärkſten Be-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 114. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/137>, abgerufen am 27.11.2024.