Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Das Problem des Consensus gleichzeitiger Thatsachen.
keine fruchtbare Wahrheit geflossen. Alles metaphysischer Nebel.
Bei keinem ist er dichter als bei Comte, der den Katholicismus
de Maistre's in das Schattenbild einer hierarchischen Leitung
der Gesellschaft durch die Wissenschaften wandelte1). Und wo irgend
aus diesen Nebeln klarere Gedanken auftauchen, da sind es Sätze
über Funktion, Struktur und Entwicklungsgeschichte der einzelnen
Völker, Religionen, Staaten, Wissenschaften, Künste oder über die
Beziehungen zwischen diesen im Zusammenhang der geschichtlichen
Welt. Aus diesen Sätzen über das Leben der Glieder und
Systeme der Menschheit setzt sich jedes genauere Bild zusammen,
durch welches irgend eine Philosophie der Geschichte ihrem schatten-
haften Grundgedanken etwas von Fleisch und Blut giebt2).



XVIII.
Wachsende Ausdehnung und Vervollkommnung der Einzel-
wissenschaften.

Inzwischen unterwerfen sich die Einzelwissenschaften des Geistes
immer neue Gruppen von Thatsachen, sie erhalten durch vergleichende
Methode und psychologische Grundlegung immer mehr den Charakter
allgemeiner Theorien, und wenn sie sich der Beziehungen zu ein-
ander in der Wirklichkeit immer deutlicher bewußt werden: so muß
wohl klar werden, daß in ihrem Zusammenhang allmälig die-
jenigen unter den Problemen der Sociologie, der Philosophie des
Geistes oder der Geschichte einer Lösung sich nähern, die einer
solchen überhaupt zugänglich sind.

Wir sahen, wie diese Einzelwissenschaften aus dem Totalzu-

1) Comte, phil. pos. 4, 683 ff.
2) Besonders deutlich in Schleiermachers so großartiger Ethik, da
hier das "Handeln der Vernunft auf die Natur, auf der Basis ihres In-
ander, wie es als ein begrifflich Mannichfaltiges construirt wird" (§ 75 ff),
erst seinen Inhalt durch die Beziehung auf die Systeme, welche das
Leben der Gesellschaft bilden, und die Ergebnisse der Einzelwissenschaften
über sie empfängt.

Das Problem des Conſenſus gleichzeitiger Thatſachen.
keine fruchtbare Wahrheit gefloſſen. Alles metaphyſiſcher Nebel.
Bei keinem iſt er dichter als bei Comte, der den Katholicismus
de Maiſtre’s in das Schattenbild einer hierarchiſchen Leitung
der Geſellſchaft durch die Wiſſenſchaften wandelte1). Und wo irgend
aus dieſen Nebeln klarere Gedanken auftauchen, da ſind es Sätze
über Funktion, Struktur und Entwicklungsgeſchichte der einzelnen
Völker, Religionen, Staaten, Wiſſenſchaften, Künſte oder über die
Beziehungen zwiſchen dieſen im Zuſammenhang der geſchichtlichen
Welt. Aus dieſen Sätzen über das Leben der Glieder und
Syſteme der Menſchheit ſetzt ſich jedes genauere Bild zuſammen,
durch welches irgend eine Philoſophie der Geſchichte ihrem ſchatten-
haften Grundgedanken etwas von Fleiſch und Blut giebt2).



XVIII.
Wachſende Ausdehnung und Vervollkommnung der Einzel-
wiſſenſchaften.

Inzwiſchen unterwerfen ſich die Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes
immer neue Gruppen von Thatſachen, ſie erhalten durch vergleichende
Methode und pſychologiſche Grundlegung immer mehr den Charakter
allgemeiner Theorien, und wenn ſie ſich der Beziehungen zu ein-
ander in der Wirklichkeit immer deutlicher bewußt werden: ſo muß
wohl klar werden, daß in ihrem Zuſammenhang allmälig die-
jenigen unter den Problemen der Sociologie, der Philoſophie des
Geiſtes oder der Geſchichte einer Löſung ſich nähern, die einer
ſolchen überhaupt zugänglich ſind.

Wir ſahen, wie dieſe Einzelwiſſenſchaften aus dem Totalzu-

1) Comte, phil. pos. 4, 683 ff.
2) Beſonders deutlich in Schleiermachers ſo großartiger Ethik, da
hier das „Handeln der Vernunft auf die Natur, auf der Baſis ihres In-
ander, wie es als ein begrifflich Mannichfaltiges conſtruirt wird“ (§ 75 ff),
erſt ſeinen Inhalt durch die Beziehung auf die Syſteme, welche das
Leben der Geſellſchaft bilden, und die Ergebniſſe der Einzelwiſſenſchaften
über ſie empfängt.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0164" n="141"/><fw place="top" type="header">Das Problem des Con&#x017F;en&#x017F;us gleichzeitiger That&#x017F;achen.</fw><lb/>
keine fruchtbare Wahrheit geflo&#x017F;&#x017F;en. Alles metaphy&#x017F;i&#x017F;cher Nebel.<lb/>
Bei keinem i&#x017F;t er dichter als bei Comte, der den Katholicismus<lb/>
de Mai&#x017F;tre&#x2019;s in das Schattenbild einer hierarchi&#x017F;chen Leitung<lb/>
der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft durch die Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften wandelte<note place="foot" n="1)">Comte, <hi rendition="#aq">phil. pos</hi>. 4, 683 ff.</note>. Und wo irgend<lb/>
aus die&#x017F;en Nebeln klarere Gedanken auftauchen, da &#x017F;ind es Sätze<lb/>
über Funktion, Struktur und Entwicklungsge&#x017F;chichte der einzelnen<lb/>
Völker, Religionen, Staaten, Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften, Kün&#x017F;te oder über die<lb/>
Beziehungen zwi&#x017F;chen die&#x017F;en im Zu&#x017F;ammenhang der ge&#x017F;chichtlichen<lb/>
Welt. Aus die&#x017F;en Sätzen über das Leben der Glieder und<lb/>
Sy&#x017F;teme der Men&#x017F;chheit &#x017F;etzt &#x017F;ich jedes genauere Bild zu&#x017F;ammen,<lb/>
durch welches irgend eine Philo&#x017F;ophie der Ge&#x017F;chichte ihrem &#x017F;chatten-<lb/>
haften Grundgedanken etwas von Flei&#x017F;ch und Blut giebt<note place="foot" n="2)">Be&#x017F;onders deutlich in <hi rendition="#g">Schleiermachers</hi> <choice><sic>fo</sic><corr>&#x017F;o</corr></choice> großartiger Ethik, da<lb/>
hier das &#x201E;Handeln der Vernunft auf die Natur, auf der Ba&#x017F;is ihres In-<lb/>
ander, wie es als ein begrifflich Mannichfaltiges con&#x017F;truirt wird&#x201C; (§ 75 ff),<lb/>
er&#x017F;t &#x017F;einen Inhalt durch die Beziehung auf die Sy&#x017F;teme, welche das<lb/>
Leben der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft bilden, und die Ergebni&#x017F;&#x017F;e der Einzelwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften<lb/>
über &#x017F;ie empfängt.</note>.</p>
        </div><lb/>
        <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
        <div n="2">
          <head> <hi rendition="#aq">XVIII.</hi><lb/> <hi rendition="#b">Wach&#x017F;ende Ausdehnung und Vervollkommnung der Einzel-<lb/>
wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften.</hi> </head><lb/>
          <p>Inzwi&#x017F;chen unterwerfen &#x017F;ich die Einzelwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften des Gei&#x017F;tes<lb/>
immer neue Gruppen von That&#x017F;achen, &#x017F;ie erhalten durch vergleichende<lb/>
Methode und p&#x017F;ychologi&#x017F;che Grundlegung immer mehr den Charakter<lb/>
allgemeiner Theorien, und wenn &#x017F;ie &#x017F;ich der Beziehungen zu ein-<lb/>
ander in der Wirklichkeit immer deutlicher bewußt werden: &#x017F;o muß<lb/>
wohl klar werden, daß in ihrem Zu&#x017F;ammenhang allmälig die-<lb/>
jenigen unter den Problemen der Sociologie, der Philo&#x017F;ophie des<lb/>
Gei&#x017F;tes oder der Ge&#x017F;chichte einer Lö&#x017F;ung &#x017F;ich nähern, die einer<lb/>
&#x017F;olchen überhaupt zugänglich &#x017F;ind.</p><lb/>
          <p>Wir &#x017F;ahen, wie die&#x017F;e Einzelwi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaften aus dem Totalzu-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[141/0164] Das Problem des Conſenſus gleichzeitiger Thatſachen. keine fruchtbare Wahrheit gefloſſen. Alles metaphyſiſcher Nebel. Bei keinem iſt er dichter als bei Comte, der den Katholicismus de Maiſtre’s in das Schattenbild einer hierarchiſchen Leitung der Geſellſchaft durch die Wiſſenſchaften wandelte 1). Und wo irgend aus dieſen Nebeln klarere Gedanken auftauchen, da ſind es Sätze über Funktion, Struktur und Entwicklungsgeſchichte der einzelnen Völker, Religionen, Staaten, Wiſſenſchaften, Künſte oder über die Beziehungen zwiſchen dieſen im Zuſammenhang der geſchichtlichen Welt. Aus dieſen Sätzen über das Leben der Glieder und Syſteme der Menſchheit ſetzt ſich jedes genauere Bild zuſammen, durch welches irgend eine Philoſophie der Geſchichte ihrem ſchatten- haften Grundgedanken etwas von Fleiſch und Blut giebt 2). XVIII. Wachſende Ausdehnung und Vervollkommnung der Einzel- wiſſenſchaften. Inzwiſchen unterwerfen ſich die Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes immer neue Gruppen von Thatſachen, ſie erhalten durch vergleichende Methode und pſychologiſche Grundlegung immer mehr den Charakter allgemeiner Theorien, und wenn ſie ſich der Beziehungen zu ein- ander in der Wirklichkeit immer deutlicher bewußt werden: ſo muß wohl klar werden, daß in ihrem Zuſammenhang allmälig die- jenigen unter den Problemen der Sociologie, der Philoſophie des Geiſtes oder der Geſchichte einer Löſung ſich nähern, die einer ſolchen überhaupt zugänglich ſind. Wir ſahen, wie dieſe Einzelwiſſenſchaften aus dem Totalzu- 1) Comte, phil. pos. 4, 683 ff. 2) Beſonders deutlich in Schleiermachers ſo großartiger Ethik, da hier das „Handeln der Vernunft auf die Natur, auf der Baſis ihres In- ander, wie es als ein begrifflich Mannichfaltiges conſtruirt wird“ (§ 75 ff), erſt ſeinen Inhalt durch die Beziehung auf die Syſteme, welche das Leben der Geſellſchaft bilden, und die Ergebniſſe der Einzelwiſſenſchaften über ſie empfängt.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/164
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 141. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/164>, abgerufen am 24.11.2024.