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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Erstes einleitendes Buch.
sammenhang durch einen Vorgang von Analysis und Abstraktion
ausgesondert worden sind. Nur in der Beziehung auf die Wirk-
lichkeit, in der ihre abstrakten Sätze enthalten sind, liegt ihre
Wahrheit. Nur indem diese Beziehung in ihre Sätze mit au[f]ge-
nommen wird, gelten dieselben von dieser Wirklichkeit. In der Los-
lösung von diesem Zusammenhang entsprangen die verhängniß-
vollen Irrthümer, welche als abstraktes Naturrecht, abstrakte poli-
tische Oekonomie, als System der natürlichen Religion, kurz als
das natürliche System des 17. und 18. Jahrhunderts die Wissen-
schaften verdorben und die Gesellschaft geschädigt haben. Indem die
Einzelwissenschaften von einem erkenntnißtheoretischen Bewußtsein
aus die Stellung ihrer Sätze zu der Wirklichkeit, aus der sie ab-
strahirt sind, festhalten, erhalten diese Sätze, wie abstrakt sie auch
seien, das Maß ihrer Geltung an der Wirklichkeit. -- Wir sahen
aber ferner, daß uns keine Erkenntniß des concreten Totalzusammen-
hangs der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit vergönnt ist, als
welche durch Zergliederung desselben in Einzelzusammenhänge, so-
nach vermittelst dieser Einzelwissenschaften erreicht wird. In
letzter Instanz ist unsre Erkenntniß dieses Zusammenhangs nur
ein sich ganz Klar-, ganz Bewußtmachen des logischen Zusammen-
hangs, in welchem die Einzelwissenschaften ihn besitzen oder ihn
zu erkennen gestatten. Dagegen müssen die isolirten Einzelwissen-
schaften des Geistes der todten Abstraktion verfallen; die isolirte
Philosophie des Geistes ist ein Gespenst; die Sonderung der philo-
sophischen Betrachtungsweise der geschichtlich-gesellschaftlichen Wirk-
lichkeit von der positiven ist die verderbliche Erbschaft der Metaphysik.

Die Entwicklung der Einzelwissenschaften des Geistes zeigt
einen Fortschritt, welcher hiermit in Uebereinstimmung ist. Un-
befangene, von den Abstraktionen vergangener Tage freie Analysen
einzelner Gestaltungen aus dem Gebiet der äußeren Organisation
der Gesellschaft oder der Systeme der Kultur, wie wir seit Toque-
ville's glorreichen Arbeiten deren eine ganze Anzahl erhalten
haben, legen den inneren Zusammenhang von geschichtlichen Ge-
bilden bloß. Das Verfahren der Vergleichung hat in der Sprach-
wissenschaft seine Probe bestanden, hat sich siegreich auf die Mytho-

Erſtes einleitendes Buch.
ſammenhang durch einen Vorgang von Analyſis und Abſtraktion
ausgeſondert worden ſind. Nur in der Beziehung auf die Wirk-
lichkeit, in der ihre abſtrakten Sätze enthalten ſind, liegt ihre
Wahrheit. Nur indem dieſe Beziehung in ihre Sätze mit au[f]ge-
nommen wird, gelten dieſelben von dieſer Wirklichkeit. In der Los-
löſung von dieſem Zuſammenhang entſprangen die verhängniß-
vollen Irrthümer, welche als abſtraktes Naturrecht, abſtrakte poli-
tiſche Oekonomie, als Syſtem der natürlichen Religion, kurz als
das natürliche Syſtem des 17. und 18. Jahrhunderts die Wiſſen-
ſchaften verdorben und die Geſellſchaft geſchädigt haben. Indem die
Einzelwiſſenſchaften von einem erkenntnißtheoretiſchen Bewußtſein
aus die Stellung ihrer Sätze zu der Wirklichkeit, aus der ſie ab-
ſtrahirt ſind, feſthalten, erhalten dieſe Sätze, wie abſtrakt ſie auch
ſeien, das Maß ihrer Geltung an der Wirklichkeit. — Wir ſahen
aber ferner, daß uns keine Erkenntniß des concreten Totalzuſammen-
hangs der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit vergönnt iſt, als
welche durch Zergliederung deſſelben in Einzelzuſammenhänge, ſo-
nach vermittelſt dieſer Einzelwiſſenſchaften erreicht wird. In
letzter Inſtanz iſt unſre Erkenntniß dieſes Zuſammenhangs nur
ein ſich ganz Klar-, ganz Bewußtmachen des logiſchen Zuſammen-
hangs, in welchem die Einzelwiſſenſchaften ihn beſitzen oder ihn
zu erkennen geſtatten. Dagegen müſſen die iſolirten Einzelwiſſen-
ſchaften des Geiſtes der todten Abſtraktion verfallen; die iſolirte
Philoſophie des Geiſtes iſt ein Geſpenſt; die Sonderung der philo-
ſophiſchen Betrachtungsweiſe der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirk-
lichkeit von der poſitiven iſt die verderbliche Erbſchaft der Metaphyſik.

Die Entwicklung der Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes zeigt
einen Fortſchritt, welcher hiermit in Uebereinſtimmung iſt. Un-
befangene, von den Abſtraktionen vergangener Tage freie Analyſen
einzelner Geſtaltungen aus dem Gebiet der äußeren Organiſation
der Geſellſchaft oder der Syſteme der Kultur, wie wir ſeit Toque-
ville’s glorreichen Arbeiten deren eine ganze Anzahl erhalten
haben, legen den inneren Zuſammenhang von geſchichtlichen Ge-
bilden bloß. Das Verfahren der Vergleichung hat in der Sprach-
wiſſenſchaft ſeine Probe beſtanden, hat ſich ſiegreich auf die Mytho-

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[142/0165] Erſtes einleitendes Buch. ſammenhang durch einen Vorgang von Analyſis und Abſtraktion ausgeſondert worden ſind. Nur in der Beziehung auf die Wirk- lichkeit, in der ihre abſtrakten Sätze enthalten ſind, liegt ihre Wahrheit. Nur indem dieſe Beziehung in ihre Sätze mit aufge- nommen wird, gelten dieſelben von dieſer Wirklichkeit. In der Los- löſung von dieſem Zuſammenhang entſprangen die verhängniß- vollen Irrthümer, welche als abſtraktes Naturrecht, abſtrakte poli- tiſche Oekonomie, als Syſtem der natürlichen Religion, kurz als das natürliche Syſtem des 17. und 18. Jahrhunderts die Wiſſen- ſchaften verdorben und die Geſellſchaft geſchädigt haben. Indem die Einzelwiſſenſchaften von einem erkenntnißtheoretiſchen Bewußtſein aus die Stellung ihrer Sätze zu der Wirklichkeit, aus der ſie ab- ſtrahirt ſind, feſthalten, erhalten dieſe Sätze, wie abſtrakt ſie auch ſeien, das Maß ihrer Geltung an der Wirklichkeit. — Wir ſahen aber ferner, daß uns keine Erkenntniß des concreten Totalzuſammen- hangs der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirklichkeit vergönnt iſt, als welche durch Zergliederung deſſelben in Einzelzuſammenhänge, ſo- nach vermittelſt dieſer Einzelwiſſenſchaften erreicht wird. In letzter Inſtanz iſt unſre Erkenntniß dieſes Zuſammenhangs nur ein ſich ganz Klar-, ganz Bewußtmachen des logiſchen Zuſammen- hangs, in welchem die Einzelwiſſenſchaften ihn beſitzen oder ihn zu erkennen geſtatten. Dagegen müſſen die iſolirten Einzelwiſſen- ſchaften des Geiſtes der todten Abſtraktion verfallen; die iſolirte Philoſophie des Geiſtes iſt ein Geſpenſt; die Sonderung der philo- ſophiſchen Betrachtungsweiſe der geſchichtlich-geſellſchaftlichen Wirk- lichkeit von der poſitiven iſt die verderbliche Erbſchaft der Metaphyſik. Die Entwicklung der Einzelwiſſenſchaften des Geiſtes zeigt einen Fortſchritt, welcher hiermit in Uebereinſtimmung iſt. Un- befangene, von den Abſtraktionen vergangener Tage freie Analyſen einzelner Geſtaltungen aus dem Gebiet der äußeren Organiſation der Geſellſchaft oder der Syſteme der Kultur, wie wir ſeit Toque- ville’s glorreichen Arbeiten deren eine ganze Anzahl erhalten haben, legen den inneren Zuſammenhang von geſchichtlichen Ge- bilden bloß. Das Verfahren der Vergleichung hat in der Sprach- wiſſenſchaft ſeine Probe beſtanden, hat ſich ſiegreich auf die Mytho-

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 142. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/165>, abgerufen am 21.11.2024.