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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Erster Abschnitt.
Voraussetzung, welche in dieser dogmatischen Metaphysik enthalten
war. -- Aber hier beginnt seine Abweichung von Aristoteles. Seinem
erkenntnißtheoretischen Standpunkt gemäß will er den Begriff der
Metaphysik aus ihrem Ursprung im Erkennen entwerfen. Nun
denkt er aber unter der unbeweisbaren Voraussetzung, allgemeine
und nothwendige Wahrheiten hätten eine Erkenntnißart a priori
zu ihrer Bedingung. Daher erhält für ihn Metaphysik als die
Wissenschaft, welche die höchste uns mögliche Vernunfteinheit in
unsere Erkenntniß zu bringen strebt, 1) folgerecht das Merkmal,
System der reinen Vernunft zu sein d. h. "philosophische Er-
kenntniß aus reiner Vernunft in systematischem Zusammenhang." 2)
Und so ist ihm Metaphysik durch ihren Ursprung in der reinen Ver-
nunft bestimmt, welcher allein philosophisches, apodiktisches Wissen
ermöglicht. Von der dogmatischen unterscheidet er sein eigenes
System als kritische Metaphysik; biegt er doch die Ausdrücke der
alten Schule auch sonst in das Erkenntnißtheoretische um. Seine
Fassung des Begriffs Metaphysik ging auf seine Schule über. 3)
Aber diese Abweichung von dem historischen Sprachgebrauch ver-
wickelt Kant in Widersprüche, da selbst die Metaphysik des Aristo-
teles eine solche reine Vernunftwissenschaft nicht ist, und sie bringt
in seine Terminologie eine auch von seinen Verehrern bemerkte
Dunkelheit.

Ein anderer Sprachgebrauch hebt eine Beziehung an der
Metaphysik hervor, welche für die allgemeine Vorstellung der Ge-
bildeten am meisten in den Vordergrund tritt, und dieser Sprach-
gebrauch ist daher im Leben sehr verbreitet. Wol sind auch die
monistischen Systeme der Naturphilosophie Metaphysik. Aber der
Schwerpunkt der großen geschichtlichen Masse von Metaphysik liegt
den gewaltigen Speculationen näher, welche nicht nur die Er-
fahrung überschreiten, sondern ein von allem Sinnfälligen unter-
schiedenes Reich von geistigen Wesenheiten annehmen. Diese
Speculationen blicken also in ein hinter der Sinnenwelt
Verborgenes, Wesenhaftes
: eine zweite Welt. Die Vor-

1) Kant 2, 350.
2) Kant 2, 648. -- 1, 490.
3) Apelt, Metaphysik S. 21 ff.

Zweites Buch. Erſter Abſchnitt.
Vorausſetzung, welche in dieſer dogmatiſchen Metaphyſik enthalten
war. — Aber hier beginnt ſeine Abweichung von Ariſtoteles. Seinem
erkenntnißtheoretiſchen Standpunkt gemäß will er den Begriff der
Metaphyſik aus ihrem Urſprung im Erkennen entwerfen. Nun
denkt er aber unter der unbeweisbaren Vorausſetzung, allgemeine
und nothwendige Wahrheiten hätten eine Erkenntnißart a priori
zu ihrer Bedingung. Daher erhält für ihn Metaphyſik als die
Wiſſenſchaft, welche die höchſte uns mögliche Vernunfteinheit in
unſere Erkenntniß zu bringen ſtrebt, 1) folgerecht das Merkmal,
Syſtem der reinen Vernunft zu ſein d. h. „philoſophiſche Er-
kenntniß aus reiner Vernunft in ſyſtematiſchem Zuſammenhang.“ 2)
Und ſo iſt ihm Metaphyſik durch ihren Urſprung in der reinen Ver-
nunft beſtimmt, welcher allein philoſophiſches, apodiktiſches Wiſſen
ermöglicht. Von der dogmatiſchen unterſcheidet er ſein eigenes
Syſtem als kritiſche Metaphyſik; biegt er doch die Ausdrücke der
alten Schule auch ſonſt in das Erkenntnißtheoretiſche um. Seine
Faſſung des Begriffs Metaphyſik ging auf ſeine Schule über. 3)
Aber dieſe Abweichung von dem hiſtoriſchen Sprachgebrauch ver-
wickelt Kant in Widerſprüche, da ſelbſt die Metaphyſik des Ariſto-
teles eine ſolche reine Vernunftwiſſenſchaft nicht iſt, und ſie bringt
in ſeine Terminologie eine auch von ſeinen Verehrern bemerkte
Dunkelheit.

Ein anderer Sprachgebrauch hebt eine Beziehung an der
Metaphyſik hervor, welche für die allgemeine Vorſtellung der Ge-
bildeten am meiſten in den Vordergrund tritt, und dieſer Sprach-
gebrauch iſt daher im Leben ſehr verbreitet. Wol ſind auch die
moniſtiſchen Syſteme der Naturphiloſophie Metaphyſik. Aber der
Schwerpunkt der großen geſchichtlichen Maſſe von Metaphyſik liegt
den gewaltigen Speculationen näher, welche nicht nur die Er-
fahrung überſchreiten, ſondern ein von allem Sinnfälligen unter-
ſchiedenes Reich von geiſtigen Weſenheiten annehmen. Dieſe
Speculationen blicken alſo in ein hinter der Sinnenwelt
Verborgenes, Weſenhaftes
: eine zweite Welt. Die Vor-

1) Kant 2, 350.
2) Kant 2, 648. — 1, 490.
3) Apelt, Metaphyſik S. 21 ff.
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[164/0187] Zweites Buch. Erſter Abſchnitt. Vorausſetzung, welche in dieſer dogmatiſchen Metaphyſik enthalten war. — Aber hier beginnt ſeine Abweichung von Ariſtoteles. Seinem erkenntnißtheoretiſchen Standpunkt gemäß will er den Begriff der Metaphyſik aus ihrem Urſprung im Erkennen entwerfen. Nun denkt er aber unter der unbeweisbaren Vorausſetzung, allgemeine und nothwendige Wahrheiten hätten eine Erkenntnißart a priori zu ihrer Bedingung. Daher erhält für ihn Metaphyſik als die Wiſſenſchaft, welche die höchſte uns mögliche Vernunfteinheit in unſere Erkenntniß zu bringen ſtrebt, 1) folgerecht das Merkmal, Syſtem der reinen Vernunft zu ſein d. h. „philoſophiſche Er- kenntniß aus reiner Vernunft in ſyſtematiſchem Zuſammenhang.“ 2) Und ſo iſt ihm Metaphyſik durch ihren Urſprung in der reinen Ver- nunft beſtimmt, welcher allein philoſophiſches, apodiktiſches Wiſſen ermöglicht. Von der dogmatiſchen unterſcheidet er ſein eigenes Syſtem als kritiſche Metaphyſik; biegt er doch die Ausdrücke der alten Schule auch ſonſt in das Erkenntnißtheoretiſche um. Seine Faſſung des Begriffs Metaphyſik ging auf ſeine Schule über. 3) Aber dieſe Abweichung von dem hiſtoriſchen Sprachgebrauch ver- wickelt Kant in Widerſprüche, da ſelbſt die Metaphyſik des Ariſto- teles eine ſolche reine Vernunftwiſſenſchaft nicht iſt, und ſie bringt in ſeine Terminologie eine auch von ſeinen Verehrern bemerkte Dunkelheit. Ein anderer Sprachgebrauch hebt eine Beziehung an der Metaphyſik hervor, welche für die allgemeine Vorſtellung der Ge- bildeten am meiſten in den Vordergrund tritt, und dieſer Sprach- gebrauch iſt daher im Leben ſehr verbreitet. Wol ſind auch die moniſtiſchen Syſteme der Naturphiloſophie Metaphyſik. Aber der Schwerpunkt der großen geſchichtlichen Maſſe von Metaphyſik liegt den gewaltigen Speculationen näher, welche nicht nur die Er- fahrung überſchreiten, ſondern ein von allem Sinnfälligen unter- ſchiedenes Reich von geiſtigen Weſenheiten annehmen. Dieſe Speculationen blicken alſo in ein hinter der Sinnenwelt Verborgenes, Weſenhaftes: eine zweite Welt. Die Vor- 1) Kant 2, 350. 2) Kant 2, 648. — 1, 490. 3) Apelt, Metaphyſik S. 21 ff.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 164. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/187>, abgerufen am 21.11.2024.