Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Xenophanes. Heraklit.
reichenden der Wirklichkeit gegenüber das Vollendete, ihrer Unreife
gegenüber das Feste und innen Selige.

Xenophanes bestimmt das Eine Sein, das ihm dieser Zusammen-
hang ist, theologisch. Das Gesetz, das nach Heraklit im Fluß der
Erscheinungen herrscht, ist nicht nur durch die Gegensätze oder den
Weg aufwärts und abwärts bestimmt, sondern es hat einen tief
religiösen Hintergrund. Der Beginn des Parmenideischen Lehr-
gedichts kündigt in alterthümlicher Erhabenheit eine mit dem reli-
giösen Glauben zusammenhängende Wahrheit an. Die Pythagoreer
zeigen denselben Charakter.

So entspricht es dem Zusammenhang der intellektuellen Ent-
wicklung sowie dem Geiste dieser alterthümlichen Zeit, daß die
tiefere Besinnung über das Prinzip des Kosmos aus dem reli-
giösen Leben
kam und dem entsprechend sich als Anforderung
an den Gedanken der Gottheit geltend machte. -- In der pytha-
goreischen Schule
war die Trennung zwischen dem in der
Wahrnehmung Gegebenen und einer metaphysischen Weltordnung
vorbereitet. Der Kosmos wurde in zwei Erklärungsgründe in Be-
zug auf seinen Ursprung zerlegt; dem Unbegrenzten trat das, was
Gestalt ist und gestaltet, gegenüber, das Prinzip der Form; dieses
wurde von den Pythagoreern mathematisch gefaßt, in den Be-
ziehungen zwischen Zahl und Raumgröße dargestellt, in die reale
Welt der Töne sowie in die harmonischen Verhältnisse der kosmischen
Massen verfolgt. -- Xenophanes erwies aus dem religiösen Be-
wußtsein das Prinzip des Einen Seins. Die Vorstellung vom Tode
der Götter ist unfromm; was aber in der Zeit entstanden ist, das
ist auch vergänglich; daher ist der Gottheit ewiger und unver-
änderlicher Bestand zuzuschreiben. Ebenso ist mit dem Bewußtsein
von der Macht und Vollkommenheit der Gottheit eine Mehrheit von
Göttern nicht verträglich; die ewige Gottheit ist also Eine. So ist
in Xenophanes mit der Besinnung über die Eigenschaften des
Prinzips des Weltalls der Beginn einer durchgreifenden Polemik
gegen das mythische Vorstellen verbunden, das eine Vielheit von
Göttern annimmt, die geboren werden und sterben; er bereits

Xenophanes. Heraklit.
reichenden der Wirklichkeit gegenüber das Vollendete, ihrer Unreife
gegenüber das Feſte und innen Selige.

Xenophanes beſtimmt das Eine Sein, das ihm dieſer Zuſammen-
hang iſt, theologiſch. Das Geſetz, das nach Heraklit im Fluß der
Erſcheinungen herrſcht, iſt nicht nur durch die Gegenſätze oder den
Weg aufwärts und abwärts beſtimmt, ſondern es hat einen tief
religiöſen Hintergrund. Der Beginn des Parmenideiſchen Lehr-
gedichts kündigt in alterthümlicher Erhabenheit eine mit dem reli-
giöſen Glauben zuſammenhängende Wahrheit an. Die Pythagoreer
zeigen denſelben Charakter.

So entſpricht es dem Zuſammenhang der intellektuellen Ent-
wicklung ſowie dem Geiſte dieſer alterthümlichen Zeit, daß die
tiefere Beſinnung über das Prinzip des Kosmos aus dem reli-
giöſen Leben
kam und dem entſprechend ſich als Anforderung
an den Gedanken der Gottheit geltend machte. — In der pytha-
goreiſchen Schule
war die Trennung zwiſchen dem in der
Wahrnehmung Gegebenen und einer metaphyſiſchen Weltordnung
vorbereitet. Der Kosmos wurde in zwei Erklärungsgründe in Be-
zug auf ſeinen Urſprung zerlegt; dem Unbegrenzten trat das, was
Geſtalt iſt und geſtaltet, gegenüber, das Prinzip der Form; dieſes
wurde von den Pythagoreern mathematiſch gefaßt, in den Be-
ziehungen zwiſchen Zahl und Raumgröße dargeſtellt, in die reale
Welt der Töne ſowie in die harmoniſchen Verhältniſſe der kosmiſchen
Maſſen verfolgt. — Xenophanes erwies aus dem religiöſen Be-
wußtſein das Prinzip des Einen Seins. Die Vorſtellung vom Tode
der Götter iſt unfromm; was aber in der Zeit entſtanden iſt, das
iſt auch vergänglich; daher iſt der Gottheit ewiger und unver-
änderlicher Beſtand zuzuſchreiben. Ebenſo iſt mit dem Bewußtſein
von der Macht und Vollkommenheit der Gottheit eine Mehrheit von
Göttern nicht verträglich; die ewige Gottheit iſt alſo Eine. So iſt
in Xenophanes mit der Beſinnung über die Eigenſchaften des
Prinzips des Weltalls der Beginn einer durchgreifenden Polemik
gegen das mythiſche Vorſtellen verbunden, das eine Vielheit von
Göttern annimmt, die geboren werden und ſterben; er bereits

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0214" n="191"/><fw place="top" type="header">Xenophanes. Heraklit.</fw><lb/>
reichenden der Wirklichkeit gegenüber das Vollendete, ihrer Unreife<lb/>
gegenüber das Fe&#x017F;te und innen Selige.</p><lb/>
            <p>Xenophanes be&#x017F;timmt das Eine Sein, das ihm die&#x017F;er Zu&#x017F;ammen-<lb/>
hang i&#x017F;t, theologi&#x017F;ch. Das Ge&#x017F;etz, das nach Heraklit im Fluß der<lb/>
Er&#x017F;cheinungen herr&#x017F;cht, i&#x017F;t nicht nur durch die Gegen&#x017F;ätze oder den<lb/>
Weg aufwärts und abwärts be&#x017F;timmt, &#x017F;ondern es hat einen tief<lb/>
religiö&#x017F;en Hintergrund. Der Beginn des Parmenidei&#x017F;chen Lehr-<lb/>
gedichts kündigt in alterthümlicher Erhabenheit eine mit dem reli-<lb/>
giö&#x017F;en Glauben zu&#x017F;ammenhängende Wahrheit an. Die Pythagoreer<lb/>
zeigen den&#x017F;elben Charakter.</p><lb/>
            <p>So ent&#x017F;pricht es dem Zu&#x017F;ammenhang der intellektuellen Ent-<lb/>
wicklung &#x017F;owie dem Gei&#x017F;te die&#x017F;er alterthümlichen Zeit, daß die<lb/>
tiefere Be&#x017F;innung über das Prinzip des Kosmos <hi rendition="#g">aus dem reli-<lb/>
giö&#x017F;en Leben</hi> kam und dem ent&#x017F;prechend &#x017F;ich als Anforderung<lb/>
an den Gedanken der Gottheit geltend machte. &#x2014; In der <hi rendition="#g">pytha-<lb/>
gorei&#x017F;chen Schule</hi> war die Trennung zwi&#x017F;chen dem in der<lb/>
Wahrnehmung Gegebenen und einer metaphy&#x017F;i&#x017F;chen Weltordnung<lb/>
vorbereitet. Der Kosmos wurde in zwei Erklärungsgründe in Be-<lb/>
zug auf &#x017F;einen Ur&#x017F;prung zerlegt; dem Unbegrenzten trat das, was<lb/>
Ge&#x017F;talt i&#x017F;t und ge&#x017F;taltet, gegenüber, das Prinzip der Form; die&#x017F;es<lb/>
wurde von den Pythagoreern mathemati&#x017F;ch gefaßt, in den Be-<lb/>
ziehungen zwi&#x017F;chen Zahl und Raumgröße darge&#x017F;tellt, in die reale<lb/>
Welt der Töne &#x017F;owie in die harmoni&#x017F;chen Verhältni&#x017F;&#x017F;e der kosmi&#x017F;chen<lb/>
Ma&#x017F;&#x017F;en verfolgt. &#x2014; <hi rendition="#g">Xenophanes</hi> erwies aus dem religiö&#x017F;en Be-<lb/>
wußt&#x017F;ein das Prinzip des Einen Seins. Die Vor&#x017F;tellung vom Tode<lb/>
der Götter i&#x017F;t unfromm; was aber in der Zeit ent&#x017F;tanden i&#x017F;t, das<lb/>
i&#x017F;t auch vergänglich; daher i&#x017F;t der Gottheit <hi rendition="#g">ewiger</hi> und unver-<lb/>
änderlicher Be&#x017F;tand zuzu&#x017F;chreiben. Eben&#x017F;o i&#x017F;t mit dem Bewußt&#x017F;ein<lb/>
von der Macht und Vollkommenheit der Gottheit eine Mehrheit von<lb/>
Göttern nicht verträglich; die ewige Gottheit i&#x017F;t al&#x017F;o <hi rendition="#g">Eine</hi>. So i&#x017F;t<lb/>
in Xenophanes mit der Be&#x017F;innung über die Eigen&#x017F;chaften des<lb/>
Prinzips des Weltalls der Beginn einer durchgreifenden Polemik<lb/>
gegen das mythi&#x017F;che Vor&#x017F;tellen verbunden, das eine Vielheit von<lb/>
Göttern annimmt, die geboren werden und &#x017F;terben; er bereits<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[191/0214] Xenophanes. Heraklit. reichenden der Wirklichkeit gegenüber das Vollendete, ihrer Unreife gegenüber das Feſte und innen Selige. Xenophanes beſtimmt das Eine Sein, das ihm dieſer Zuſammen- hang iſt, theologiſch. Das Geſetz, das nach Heraklit im Fluß der Erſcheinungen herrſcht, iſt nicht nur durch die Gegenſätze oder den Weg aufwärts und abwärts beſtimmt, ſondern es hat einen tief religiöſen Hintergrund. Der Beginn des Parmenideiſchen Lehr- gedichts kündigt in alterthümlicher Erhabenheit eine mit dem reli- giöſen Glauben zuſammenhängende Wahrheit an. Die Pythagoreer zeigen denſelben Charakter. So entſpricht es dem Zuſammenhang der intellektuellen Ent- wicklung ſowie dem Geiſte dieſer alterthümlichen Zeit, daß die tiefere Beſinnung über das Prinzip des Kosmos aus dem reli- giöſen Leben kam und dem entſprechend ſich als Anforderung an den Gedanken der Gottheit geltend machte. — In der pytha- goreiſchen Schule war die Trennung zwiſchen dem in der Wahrnehmung Gegebenen und einer metaphyſiſchen Weltordnung vorbereitet. Der Kosmos wurde in zwei Erklärungsgründe in Be- zug auf ſeinen Urſprung zerlegt; dem Unbegrenzten trat das, was Geſtalt iſt und geſtaltet, gegenüber, das Prinzip der Form; dieſes wurde von den Pythagoreern mathematiſch gefaßt, in den Be- ziehungen zwiſchen Zahl und Raumgröße dargeſtellt, in die reale Welt der Töne ſowie in die harmoniſchen Verhältniſſe der kosmiſchen Maſſen verfolgt. — Xenophanes erwies aus dem religiöſen Be- wußtſein das Prinzip des Einen Seins. Die Vorſtellung vom Tode der Götter iſt unfromm; was aber in der Zeit entſtanden iſt, das iſt auch vergänglich; daher iſt der Gottheit ewiger und unver- änderlicher Beſtand zuzuſchreiben. Ebenſo iſt mit dem Bewußtſein von der Macht und Vollkommenheit der Gottheit eine Mehrheit von Göttern nicht verträglich; die ewige Gottheit iſt alſo Eine. So iſt in Xenophanes mit der Beſinnung über die Eigenſchaften des Prinzips des Weltalls der Beginn einer durchgreifenden Polemik gegen das mythiſche Vorſtellen verbunden, das eine Vielheit von Göttern annimmt, die geboren werden und ſterben; er bereits

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/214
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/214>, abgerufen am 24.11.2024.