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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
Eine solche Schwierigkeit lag in der schon Leukipp zugeschriebenen
Annahme, neben dem Seienden komme auch Existenz dem
Nichtseienden zu d. h. dem leeren Raume. Und doch war ohne
diese Annahme Bewegung nicht möglich. Anaxagoras leugnet,
ja bekämpft den leeren Raum 1), aber er vermag dann freilich das
Ausweichen seiner Massentheilchen nicht zu erklären. -- Eine
weitere Schwierigkeit lag in der Annahme der Untheilbarkeit von
kleinen Körpern, dergleichen die Atomisten lehrten. Hiergegen
richtete, wie es scheint, Anaxagoras seine tiefsinnige Lehre von der
Relativität der Größe 2). -- Endlich lag eine Schwierigkeit in der
Unerklärbarkeit der qualitativen Veränderung aus Atomen; ihr
gegenüber entwickelte Anaxagoras eine sehr zusammengesetzte Theorie,
und an diesem Punkte bemerkt man, welche Bedeutung für die
Fortentwicklung der Atomistik das Auftreten des Protagoras hatte.
Denn Protagoras steht zwischen Leukipp und Anaxagoras einerseits
und der Vollendung des atomistischen Systems andrerseits. Seine
Theorie der Sinneswahrnehmung ermöglichte erst die wissenschaft-
lich begründete Ablösung der Vorstellungen des Qualitativen von
den Atomen, und daß sich Demokrit, vielleicht in einer besonderen
Schrift, mit Protagoras auseinandergesetzt habe, wird ausdrück-
lich überliefert 3). -- Die Atomtheorie des Demokrit, von so viel
Schwierigkeiten umgeben, durch Protagoras mit der Skepsis ver-
bunden, erhielt durch Metrodor und Nausiphanes eine noch skep-
tischere Haltung; so gelangte sie durch Nausiphanes zu Epikur 4);
sie erhielt sich, allen Schwierigkeiten trotzend, weil sie, wie der
weitere Verlauf zeigen wird, ein berechtigter Bestandtheil der Na-
turerklärung ist.

War schon der Begriff von Massentheilchen ein konstruktiver

1) Arist. Phys. IV, 6.
2) Simpl. in phys. f. 35 r. (Mullach I, 251 fr. 15). Dazu vgl. den
einleuchtenden Nachweis Zeller's, Anaxagoras habe in seiner Schrift sich
auf Leukipp polemisch bezogen (I4, 920 f).
3) Plut. adv. Colot. c. 4. p. 1109 A. Vgl. Sext. Empir. adv. Math.
VII, 389.
4) Zeller das. 857 ff.

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Eine ſolche Schwierigkeit lag in der ſchon Leukipp zugeſchriebenen
Annahme, neben dem Seienden komme auch Exiſtenz dem
Nichtſeienden zu d. h. dem leeren Raume. Und doch war ohne
dieſe Annahme Bewegung nicht möglich. Anaxagoras leugnet,
ja bekämpft den leeren Raum 1), aber er vermag dann freilich das
Ausweichen ſeiner Maſſentheilchen nicht zu erklären. — Eine
weitere Schwierigkeit lag in der Annahme der Untheilbarkeit von
kleinen Körpern, dergleichen die Atomiſten lehrten. Hiergegen
richtete, wie es ſcheint, Anaxagoras ſeine tiefſinnige Lehre von der
Relativität der Größe 2). — Endlich lag eine Schwierigkeit in der
Unerklärbarkeit der qualitativen Veränderung aus Atomen; ihr
gegenüber entwickelte Anaxagoras eine ſehr zuſammengeſetzte Theorie,
und an dieſem Punkte bemerkt man, welche Bedeutung für die
Fortentwicklung der Atomiſtik das Auftreten des Protagoras hatte.
Denn Protagoras ſteht zwiſchen Leukipp und Anaxagoras einerſeits
und der Vollendung des atomiſtiſchen Syſtems andrerſeits. Seine
Theorie der Sinneswahrnehmung ermöglichte erſt die wiſſenſchaft-
lich begründete Ablöſung der Vorſtellungen des Qualitativen von
den Atomen, und daß ſich Demokrit, vielleicht in einer beſonderen
Schrift, mit Protagoras auseinandergeſetzt habe, wird ausdrück-
lich überliefert 3). — Die Atomtheorie des Demokrit, von ſo viel
Schwierigkeiten umgeben, durch Protagoras mit der Skepſis ver-
bunden, erhielt durch Metrodor und Nauſiphanes eine noch ſkep-
tiſchere Haltung; ſo gelangte ſie durch Nauſiphanes zu Epikur 4);
ſie erhielt ſich, allen Schwierigkeiten trotzend, weil ſie, wie der
weitere Verlauf zeigen wird, ein berechtigter Beſtandtheil der Na-
turerklärung iſt.

War ſchon der Begriff von Maſſentheilchen ein konſtruktiver

1) Ariſt. Phys. IV, 6.
2) Simpl. in phys. f. 35 r. (Mullach I, 251 fr. 15). Dazu vgl. den
einleuchtenden Nachweis Zeller’s, Anaxagoras habe in ſeiner Schrift ſich
auf Leukipp polemiſch bezogen (I4, 920 f).
3) Plut. adv. Colot. c. 4. p. 1109 A. Vgl. Sext. Empir. adv. Math.
VII, 389.
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[200/0223] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Eine ſolche Schwierigkeit lag in der ſchon Leukipp zugeſchriebenen Annahme, neben dem Seienden komme auch Exiſtenz dem Nichtſeienden zu d. h. dem leeren Raume. Und doch war ohne dieſe Annahme Bewegung nicht möglich. Anaxagoras leugnet, ja bekämpft den leeren Raum 1), aber er vermag dann freilich das Ausweichen ſeiner Maſſentheilchen nicht zu erklären. — Eine weitere Schwierigkeit lag in der Annahme der Untheilbarkeit von kleinen Körpern, dergleichen die Atomiſten lehrten. Hiergegen richtete, wie es ſcheint, Anaxagoras ſeine tiefſinnige Lehre von der Relativität der Größe 2). — Endlich lag eine Schwierigkeit in der Unerklärbarkeit der qualitativen Veränderung aus Atomen; ihr gegenüber entwickelte Anaxagoras eine ſehr zuſammengeſetzte Theorie, und an dieſem Punkte bemerkt man, welche Bedeutung für die Fortentwicklung der Atomiſtik das Auftreten des Protagoras hatte. Denn Protagoras ſteht zwiſchen Leukipp und Anaxagoras einerſeits und der Vollendung des atomiſtiſchen Syſtems andrerſeits. Seine Theorie der Sinneswahrnehmung ermöglichte erſt die wiſſenſchaft- lich begründete Ablöſung der Vorſtellungen des Qualitativen von den Atomen, und daß ſich Demokrit, vielleicht in einer beſonderen Schrift, mit Protagoras auseinandergeſetzt habe, wird ausdrück- lich überliefert 3). — Die Atomtheorie des Demokrit, von ſo viel Schwierigkeiten umgeben, durch Protagoras mit der Skepſis ver- bunden, erhielt durch Metrodor und Nauſiphanes eine noch ſkep- tiſchere Haltung; ſo gelangte ſie durch Nauſiphanes zu Epikur 4); ſie erhielt ſich, allen Schwierigkeiten trotzend, weil ſie, wie der weitere Verlauf zeigen wird, ein berechtigter Beſtandtheil der Na- turerklärung iſt. War ſchon der Begriff von Maſſentheilchen ein konſtruktiver 1) Ariſt. Phys. IV, 6. 2) Simpl. in phys. f. 35 r. (Mullach I, 251 fr. 15). Dazu vgl. den einleuchtenden Nachweis Zeller’s, Anaxagoras habe in ſeiner Schrift ſich auf Leukipp polemiſch bezogen (I4, 920 f). 3) Plut. adv. Colot. c. 4. p. 1109 A. Vgl. Sext. Empir. adv. Math. VII, 389. 4) Zeller daſ. 857 ff.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 200. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/223>, abgerufen am 21.11.2024.