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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Der Charakter des Anaxagoras und seine Leistung.
metaphysischer Begriff: so entstand für diese Theoretiker der
Massentheilchen nun das konstruktive Problem, ob aus ihnen allein
der Kosmos erklärt werden könne.

An diesem Punkte der Entwicklung, es war in der schönsten
Zeit Athens, trat nun im Zusammenhang mit der Lage der
Wissenschaften diejenige Konstruktion des Kosmos in erstem groß
gedachten Wurf hervor, welche der europäischen Metaphysik ihre
lang dauernde Macht über den Geist unsres Welttheils verschafft
hat. Dies ist die Lehre von einer vom Kosmos selber unterschiedenen
Weltvernunft, welche als erster Beweger die Ursache des regel-
mäßigen, ja zweckmäßigen Zusammenhangs im Kosmos ist.

Der Monotheismus d. h. der Gedanke des Einen Gottes,
welcher, von der Natur nicht nur im Begriff, sondern als That-
sächlichkeit gänzlich unterschieden, als eine rein geistige Macht die
Welt regiert, entstand in dem Abendlande im Zusammenhang mit
den astronomischen Untersuchungen; er ist daselbst zwei Jahr-
tausende lang durch ein Raisonnement getragen worden, welches
in der Auffassung des Weltgebäudes seinen Rückhalt hatte. Mit
Ehrfurcht nähere ich mich dem Manne, welcher zuerst diesen ein-
fachen Zusammenhang der regelmäßigen Bewegungen der Gestirne
mit einem ersten Beweger ersann. Seine Person erschien dem
Alterthum als repräsentativ für eine Richtung des Geistes auf
das Wissenswerthe, mit Vernachlässigung dessen, was Klugheit
für den eigenen Nutzen sucht. "Anaxagoras soll einem, der ihn
befragte, weswegen doch Jemand das Sein dem Nichtsein vorziehe,
geantwortet haben: wegen der Betrachtung des Himmels sowie der
über den ganzen Kosmos verbreiteten Ordnung" 1). Diese Stelle
verdeutlicht den Zusammenhang, in welchem die Alten den Geist
seiner astronomischen Forschungen mit seiner monotheistischen Meta-
physik erblickten. Von da ergoß sich über sein ganzes Wesen der
Charakter von gefaßter Würde, ja Erhabenheit, den er nach der Auf-
fassung guter Berichterstatter seinem Freunde Pericles mittheilte 2).


1) Eth. Eudem. I, 5; vgl. Eth. N. X, 9.
2) Außer den bekannten Stellen Plutarch's vgl. den Phädrus Platos
p. 270 A.

Der Charakter des Anaxagoras und ſeine Leiſtung.
metaphyſiſcher Begriff: ſo entſtand für dieſe Theoretiker der
Maſſentheilchen nun das konſtruktive Problem, ob aus ihnen allein
der Kosmos erklärt werden könne.

An dieſem Punkte der Entwicklung, es war in der ſchönſten
Zeit Athens, trat nun im Zuſammenhang mit der Lage der
Wiſſenſchaften diejenige Konſtruktion des Kosmos in erſtem groß
gedachten Wurf hervor, welche der europäiſchen Metaphyſik ihre
lang dauernde Macht über den Geiſt unſres Welttheils verſchafft
hat. Dies iſt die Lehre von einer vom Kosmos ſelber unterſchiedenen
Weltvernunft, welche als erſter Beweger die Urſache des regel-
mäßigen, ja zweckmäßigen Zuſammenhangs im Kosmos iſt.

Der Monotheismus d. h. der Gedanke des Einen Gottes,
welcher, von der Natur nicht nur im Begriff, ſondern als That-
ſächlichkeit gänzlich unterſchieden, als eine rein geiſtige Macht die
Welt regiert, entſtand in dem Abendlande im Zuſammenhang mit
den aſtronomiſchen Unterſuchungen; er iſt daſelbſt zwei Jahr-
tauſende lang durch ein Raiſonnement getragen worden, welches
in der Auffaſſung des Weltgebäudes ſeinen Rückhalt hatte. Mit
Ehrfurcht nähere ich mich dem Manne, welcher zuerſt dieſen ein-
fachen Zuſammenhang der regelmäßigen Bewegungen der Geſtirne
mit einem erſten Beweger erſann. Seine Perſon erſchien dem
Alterthum als repräſentativ für eine Richtung des Geiſtes auf
das Wiſſenswerthe, mit Vernachläſſigung deſſen, was Klugheit
für den eigenen Nutzen ſucht. „Anaxagoras ſoll einem, der ihn
befragte, weswegen doch Jemand das Sein dem Nichtſein vorziehe,
geantwortet haben: wegen der Betrachtung des Himmels ſowie der
über den ganzen Kosmos verbreiteten Ordnung“ 1). Dieſe Stelle
verdeutlicht den Zuſammenhang, in welchem die Alten den Geiſt
ſeiner aſtronomiſchen Forſchungen mit ſeiner monotheiſtiſchen Meta-
phyſik erblickten. Von da ergoß ſich über ſein ganzes Weſen der
Charakter von gefaßter Würde, ja Erhabenheit, den er nach der Auf-
faſſung guter Berichterſtatter ſeinem Freunde Pericles mittheilte 2).


1) Eth. Eudem. I, 5; vgl. Eth. N. X, 9.
2) Außer den bekannten Stellen Plutarch’s vgl. den Phädrus Platos
p. 270 A.
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[201/0224] Der Charakter des Anaxagoras und ſeine Leiſtung. metaphyſiſcher Begriff: ſo entſtand für dieſe Theoretiker der Maſſentheilchen nun das konſtruktive Problem, ob aus ihnen allein der Kosmos erklärt werden könne. An dieſem Punkte der Entwicklung, es war in der ſchönſten Zeit Athens, trat nun im Zuſammenhang mit der Lage der Wiſſenſchaften diejenige Konſtruktion des Kosmos in erſtem groß gedachten Wurf hervor, welche der europäiſchen Metaphyſik ihre lang dauernde Macht über den Geiſt unſres Welttheils verſchafft hat. Dies iſt die Lehre von einer vom Kosmos ſelber unterſchiedenen Weltvernunft, welche als erſter Beweger die Urſache des regel- mäßigen, ja zweckmäßigen Zuſammenhangs im Kosmos iſt. Der Monotheismus d. h. der Gedanke des Einen Gottes, welcher, von der Natur nicht nur im Begriff, ſondern als That- ſächlichkeit gänzlich unterſchieden, als eine rein geiſtige Macht die Welt regiert, entſtand in dem Abendlande im Zuſammenhang mit den aſtronomiſchen Unterſuchungen; er iſt daſelbſt zwei Jahr- tauſende lang durch ein Raiſonnement getragen worden, welches in der Auffaſſung des Weltgebäudes ſeinen Rückhalt hatte. Mit Ehrfurcht nähere ich mich dem Manne, welcher zuerſt dieſen ein- fachen Zuſammenhang der regelmäßigen Bewegungen der Geſtirne mit einem erſten Beweger erſann. Seine Perſon erſchien dem Alterthum als repräſentativ für eine Richtung des Geiſtes auf das Wiſſenswerthe, mit Vernachläſſigung deſſen, was Klugheit für den eigenen Nutzen ſucht. „Anaxagoras ſoll einem, der ihn befragte, weswegen doch Jemand das Sein dem Nichtſein vorziehe, geantwortet haben: wegen der Betrachtung des Himmels ſowie der über den ganzen Kosmos verbreiteten Ordnung“ 1). Dieſe Stelle verdeutlicht den Zuſammenhang, in welchem die Alten den Geiſt ſeiner aſtronomiſchen Forſchungen mit ſeiner monotheiſtiſchen Meta- phyſik erblickten. Von da ergoß ſich über ſein ganzes Weſen der Charakter von gefaßter Würde, ja Erhabenheit, den er nach der Auf- faſſung guter Berichterſtatter ſeinem Freunde Pericles mittheilte 2). 1) Eth. Eudem. I, 5; vgl. Eth. N. X, 9. 2) Außer den bekannten Stellen Plutarch’s vgl. den Phädrus Platos p. 270 A.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/224>, abgerufen am 21.11.2024.