Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Dauernde Bedeutung der Atomistik. Diese atomistische Theorie, wie sie nun Leukipp und Demokritbegründen, ist, nach der scientifischen Brauchbarkeit be- messen, die bedeutendste metaphysische Theorie des ganzen Alterthums. Sie ist der einfache Ausdruck der Anforde- rung des Erkennens an seinen Gegenstand, für das Spiel der Veränderungen, des Entstehens und Vergehens stätige, stand- haltende Substrate zu haben. Dies erreicht die atomistische Theorie, indem sie mit natürlichem Sinne den Vorgängen von Theilung und Zusammensetzung der Einzeldinge, von scheinbarem Verschwin- den eines Dinges im Wechsel des Aggregatzustandes und dem Wieder- sichtbarwerden desselben folgt; so gelangt sie zu kleinen Dingen, Substanzen, welche als stätig raumerfüllend untheilbare Ganze sind. Denn wenn die Zerreißung eines Dinges als darum möglich vorgestellt wird, weil dies Ding aus diskreten Theilen besteht, so bilden die Grenze dieser Zerlegung Theile, welche darum nicht mehr trennbar sind, weil sie nicht mehr aus diskreten Theilen zusammengesetzt sind. Die atomistische Theorie kann alsdann die untrennbaren Einheiten als unveränderlich bestimmen, gleich- sam als die wahren parmenideischen Substanzen; denn Ver- änderung ist ihr nur durch Verschiebung von Theilen erklärbar. Sie kann endlich, was der wahre Sinn aller ächten Atomistik ist, das anschauliche Bild von Bewegungen im Raume, Entfernungen, Ausdehnungen, Massen auf diese Welt des Kleinen, welche sich der Sichtbarkeit entzieht, über- tragen. Zu den Bestandtheilen dieses anschaulichen Bildes gehört auch der leere Raum; denn bevor wir von der At- mosphäre zureichende Begriffe ausbilden, glauben wir die Dinge in ihn ausweichen zu sehen, und auch nach Berichtigung dieser Vorstellung können wir Bewegung nur vermittelst dieses Hilfs- begriffs eines Leeren denken, in welches die Objekte ausweichen. Diese einfache Anschaulichkeit vollendet sich durch zwei weitere Theoreme: jede Wirkung, die im Kosmos stattfindet, wird auf Berührung, Druck und Stoß zurückgeführt; dem entsprechend wird jede Veränderung auf die Bewegung der sich gleichbleibenden Atome im Raume reducirt, und sonach werden alle Eindrücke von Dauernde Bedeutung der Atomiſtik. Dieſe atomiſtiſche Theorie, wie ſie nun Leukipp und Demokritbegründen, iſt, nach der ſcientifiſchen Brauchbarkeit be- meſſen, die bedeutendſte metaphyſiſche Theorie des ganzen Alterthums. Sie iſt der einfache Ausdruck der Anforde- rung des Erkennens an ſeinen Gegenſtand, für das Spiel der Veränderungen, des Entſtehens und Vergehens ſtätige, ſtand- haltende Subſtrate zu haben. Dies erreicht die atomiſtiſche Theorie, indem ſie mit natürlichem Sinne den Vorgängen von Theilung und Zuſammenſetzung der Einzeldinge, von ſcheinbarem Verſchwin- den eines Dinges im Wechſel des Aggregatzuſtandes und dem Wieder- ſichtbarwerden desſelben folgt; ſo gelangt ſie zu kleinen Dingen, Subſtanzen, welche als ſtätig raumerfüllend untheilbare Ganze ſind. Denn wenn die Zerreißung eines Dinges als darum möglich vorgeſtellt wird, weil dies Ding aus diskreten Theilen beſteht, ſo bilden die Grenze dieſer Zerlegung Theile, welche darum nicht mehr trennbar ſind, weil ſie nicht mehr aus diskreten Theilen zuſammengeſetzt ſind. Die atomiſtiſche Theorie kann alsdann die untrennbaren Einheiten als unveränderlich beſtimmen, gleich- ſam als die wahren parmenideiſchen Subſtanzen; denn Ver- änderung iſt ihr nur durch Verſchiebung von Theilen erklärbar. Sie kann endlich, was der wahre Sinn aller ächten Atomiſtik iſt, das anſchauliche Bild von Bewegungen im Raume, Entfernungen, Ausdehnungen, Maſſen auf dieſe Welt des Kleinen, welche ſich der Sichtbarkeit entzieht, über- tragen. Zu den Beſtandtheilen dieſes anſchaulichen Bildes gehört auch der leere Raum; denn bevor wir von der At- moſphäre zureichende Begriffe ausbilden, glauben wir die Dinge in ihn ausweichen zu ſehen, und auch nach Berichtigung dieſer Vorſtellung können wir Bewegung nur vermittelſt dieſes Hilfs- begriffs eines Leeren denken, in welches die Objekte ausweichen. Dieſe einfache Anſchaulichkeit vollendet ſich durch zwei weitere Theoreme: jede Wirkung, die im Kosmos ſtattfindet, wird auf Berührung, Druck und Stoß zurückgeführt; dem entſprechend wird jede Veränderung auf die Bewegung der ſich gleichbleibenden Atome im Raume reducirt, und ſonach werden alle Eindrücke von <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0236" n="213"/><fw place="top" type="header">Dauernde Bedeutung der Atomiſtik.</fw><lb/> Dieſe atomiſtiſche Theorie, wie ſie nun Leukipp und Demokrit<lb/> begründen, iſt, nach der <hi rendition="#g">ſcientifiſchen Brauchbarkeit</hi> be-<lb/> meſſen, die <hi rendition="#g">bedeutendſte metaphyſiſche Theorie</hi> des<lb/> ganzen Alterthums. Sie iſt der einfache Ausdruck der Anforde-<lb/> rung des Erkennens an ſeinen Gegenſtand, für das Spiel der<lb/> Veränderungen, des Entſtehens und Vergehens ſtätige, ſtand-<lb/> haltende Subſtrate zu haben. 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Dauernde Bedeutung der Atomiſtik.
Dieſe atomiſtiſche Theorie, wie ſie nun Leukipp und Demokrit
begründen, iſt, nach der ſcientifiſchen Brauchbarkeit be-
meſſen, die bedeutendſte metaphyſiſche Theorie des
ganzen Alterthums. Sie iſt der einfache Ausdruck der Anforde-
rung des Erkennens an ſeinen Gegenſtand, für das Spiel der
Veränderungen, des Entſtehens und Vergehens ſtätige, ſtand-
haltende Subſtrate zu haben. Dies erreicht die atomiſtiſche Theorie,
indem ſie mit natürlichem Sinne den Vorgängen von Theilung
und Zuſammenſetzung der Einzeldinge, von ſcheinbarem Verſchwin-
den eines Dinges im Wechſel des Aggregatzuſtandes und dem Wieder-
ſichtbarwerden desſelben folgt; ſo gelangt ſie zu kleinen Dingen,
Subſtanzen, welche als ſtätig raumerfüllend untheilbare Ganze
ſind. Denn wenn die Zerreißung eines Dinges als darum möglich
vorgeſtellt wird, weil dies Ding aus diskreten Theilen beſteht, ſo
bilden die Grenze dieſer Zerlegung Theile, welche darum nicht
mehr trennbar ſind, weil ſie nicht mehr aus diskreten Theilen
zuſammengeſetzt ſind. Die atomiſtiſche Theorie kann alsdann
die untrennbaren Einheiten als unveränderlich beſtimmen, gleich-
ſam als die wahren parmenideiſchen Subſtanzen; denn Ver-
änderung iſt ihr nur durch Verſchiebung von Theilen erklärbar.
Sie kann endlich, was der wahre Sinn aller ächten Atomiſtik
iſt, das anſchauliche Bild von Bewegungen im Raume,
Entfernungen, Ausdehnungen, Maſſen auf dieſe Welt des
Kleinen, welche ſich der Sichtbarkeit entzieht, über-
tragen. Zu den Beſtandtheilen dieſes anſchaulichen Bildes
gehört auch der leere Raum; denn bevor wir von der At-
moſphäre zureichende Begriffe ausbilden, glauben wir die Dinge
in ihn ausweichen zu ſehen, und auch nach Berichtigung dieſer
Vorſtellung können wir Bewegung nur vermittelſt dieſes Hilfs-
begriffs eines Leeren denken, in welches die Objekte ausweichen.
Dieſe einfache Anſchaulichkeit vollendet ſich durch zwei weitere
Theoreme: jede Wirkung, die im Kosmos ſtattfindet, wird auf
Berührung, Druck und Stoß zurückgeführt; dem entſprechend wird
jede Veränderung auf die Bewegung der ſich gleichbleibenden
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