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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
Sechstes Kapitel.
Aristoteles und die Aufstellung einer abgesonderten metaphysischen
Wissenschaft.

Aristoteles hat die Metaphysik der substantialen Formen
vollendet. In dieser suchte die Wissenschaft das im Wechsel und der
Veränderung Gleichförmige, fand aber zunächst dies Standhaltende
und darum der Erkenntniß Zugängliche in dem, was die All-
gemeinvorstellung, der Begriff umfaßt. Diese Metaphysik entsprach
einer Naturforschung, welche in der Zerlegung vorzüglich auf
der Intelligenz entsprechende, gedankenmäßige Naturformen zurück-
ging; hiermit war die Erklärung solcher Naturformen aus psychischen
Ursachen verbunden, welche von Gedanken geleitet gedacht wurden;
ein Bestandtheil des mythischen Vorstellens dauerte in dieser
Annahme psychischer Ursachen für den Naturlauf fort. Und zwar
wurde in Aristoteles diese Metaphysik der substantialen Formen
zum Mittel, die Wirklichkeit dem Erkennen zu unterwerfen, während
Plato in den wirklichen Objekten nur die gigantischen Schatten
sah, welche die Ideen werfen. Platos Anschauung einer unver-
änderlichen Ideenordnung setzt sich bei Aristoteles um in die An-
schauung einer ungewordenen ewigen wirklichen Welt,
in welcher die Formen in unwandelbarer Gleichheit
mit sich selber
, auch inmitten des Wandels von Anlage,
Entfaltung und Untergang
auf dieser Erde, sich erhalten.
So bezeichnet Aristoteles eine wichtige Stelle in der geschichtlichen
Verkettung der Gedanken, welche die Entwicklung des europäischen
Denkens bildet.

Die wissenschaftlichen Bedingungen.

Aristoteles denkt unter der Voraussetzung, daß der
geistige Vorgang
sich des Seienden außer uns bemäch-
tige
1); dieser Standpunkt kann als Dogmatismus oder als Objek-
tivismus bezeichnet werden. Und zwar wird von Aristoteles die

1) Vgl. S. 236 ff.
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Sechſtes Kapitel.
Ariſtoteles und die Aufſtellung einer abgeſonderten metaphyſiſchen
Wiſſenſchaft.

Ariſtoteles hat die Metaphyſik der ſubſtantialen Formen
vollendet. In dieſer ſuchte die Wiſſenſchaft das im Wechſel und der
Veränderung Gleichförmige, fand aber zunächſt dies Standhaltende
und darum der Erkenntniß Zugängliche in dem, was die All-
gemeinvorſtellung, der Begriff umfaßt. Dieſe Metaphyſik entſprach
einer Naturforſchung, welche in der Zerlegung vorzüglich auf
der Intelligenz entſprechende, gedankenmäßige Naturformen zurück-
ging; hiermit war die Erklärung ſolcher Naturformen aus pſychiſchen
Urſachen verbunden, welche von Gedanken geleitet gedacht wurden;
ein Beſtandtheil des mythiſchen Vorſtellens dauerte in dieſer
Annahme pſychiſcher Urſachen für den Naturlauf fort. Und zwar
wurde in Ariſtoteles dieſe Metaphyſik der ſubſtantialen Formen
zum Mittel, die Wirklichkeit dem Erkennen zu unterwerfen, während
Plato in den wirklichen Objekten nur die gigantiſchen Schatten
ſah, welche die Ideen werfen. Platos Anſchauung einer unver-
änderlichen Ideenordnung ſetzt ſich bei Ariſtoteles um in die An-
ſchauung einer ungewordenen ewigen wirklichen Welt,
in welcher die Formen in unwandelbarer Gleichheit
mit ſich ſelber
, auch inmitten des Wandels von Anlage,
Entfaltung und Untergang
auf dieſer Erde, ſich erhalten.
So bezeichnet Ariſtoteles eine wichtige Stelle in der geſchichtlichen
Verkettung der Gedanken, welche die Entwicklung des europäiſchen
Denkens bildet.

Die wiſſenſchaftlichen Bedingungen.

Ariſtoteles denkt unter der Vorausſetzung, daß der
geiſtige Vorgang
ſich des Seienden außer uns bemäch-
tige
1); dieſer Standpunkt kann als Dogmatismus oder als Objek-
tivismus bezeichnet werden. Und zwar wird von Ariſtoteles die

1) Vgl. S. 236 ff.
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[242/0265] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Sechſtes Kapitel. Ariſtoteles und die Aufſtellung einer abgeſonderten metaphyſiſchen Wiſſenſchaft. Ariſtoteles hat die Metaphyſik der ſubſtantialen Formen vollendet. In dieſer ſuchte die Wiſſenſchaft das im Wechſel und der Veränderung Gleichförmige, fand aber zunächſt dies Standhaltende und darum der Erkenntniß Zugängliche in dem, was die All- gemeinvorſtellung, der Begriff umfaßt. Dieſe Metaphyſik entſprach einer Naturforſchung, welche in der Zerlegung vorzüglich auf der Intelligenz entſprechende, gedankenmäßige Naturformen zurück- ging; hiermit war die Erklärung ſolcher Naturformen aus pſychiſchen Urſachen verbunden, welche von Gedanken geleitet gedacht wurden; ein Beſtandtheil des mythiſchen Vorſtellens dauerte in dieſer Annahme pſychiſcher Urſachen für den Naturlauf fort. Und zwar wurde in Ariſtoteles dieſe Metaphyſik der ſubſtantialen Formen zum Mittel, die Wirklichkeit dem Erkennen zu unterwerfen, während Plato in den wirklichen Objekten nur die gigantiſchen Schatten ſah, welche die Ideen werfen. Platos Anſchauung einer unver- änderlichen Ideenordnung ſetzt ſich bei Ariſtoteles um in die An- ſchauung einer ungewordenen ewigen wirklichen Welt, in welcher die Formen in unwandelbarer Gleichheit mit ſich ſelber, auch inmitten des Wandels von Anlage, Entfaltung und Untergang auf dieſer Erde, ſich erhalten. So bezeichnet Ariſtoteles eine wichtige Stelle in der geſchichtlichen Verkettung der Gedanken, welche die Entwicklung des europäiſchen Denkens bildet. Die wiſſenſchaftlichen Bedingungen. Ariſtoteles denkt unter der Vorausſetzung, daß der geiſtige Vorgang ſich des Seienden außer uns bemäch- tige 1); dieſer Standpunkt kann als Dogmatismus oder als Objek- tivismus bezeichnet werden. Und zwar wird von Ariſtoteles die 1) Vgl. S. 236 ff.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/265>, abgerufen am 27.11.2024.