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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Vorauss. d. Arist., daß d. geist. Vorgang sich d. Seienden bemächtige.
Vorstellung von der Erkenntniß des Gleichartigen durch Gleichartiges,
welche die Form dieser Voraussetzung für den unter dem Einfluß
seiner Naturreligion und Mythologie stehenden griechischen Geist
ist, in einem abschließenden Theorem entwickelt; dasselbe hat auch
eine einflußreiche Schule der neueren Metaphysik geleitet.

Von welcher Bedeutung der Satz, daß Gleichartiges nur durch
Gleichartiges erkannt werde, für das Nachdenken der älteren
griechischen Philosophen war, hat Aristoteles selber hervorgehoben 1).
Nach Heraklit wird das Bewegte durch das Bewegte erkannt.
Von Empedocles erwähnt Aristoteles bei dieser Gelegenheit folgende
Verse:

Erde erblicken wir stets durch Erde, durch Wasser das Wasser,
Göttlichen Aether durch Aether, verzehrendes Feuer durch Feuer,
Liebe durch Liebe und Streit vermittelst des traurigen Streites.

Ebenso ging Parmenides davon aus, daß Verwandtes das
Verwandte empfinde 2); Philolaus entwickelt, die Zahl füge die
Dinge harmonisch der Seele. Und denselben Satz, daß Gleiches
durch Gleiches erkannt werde, findet schließlich Aristoteles bei seinem
Lehrer Plato wieder 3).

Diese Entwicklung schließt Aristoteles durch das folgende
Theorem ab. Der Nus, die göttliche Vernunft, ist das Prinzip,
der Zweck, durch welchen das Vernunftmäßige an den Dingen
wenigstens mittelbar in jedem Punkte bedingt ist, und so kann
durch die der göttlichen verwandte menschliche Vernunft der
Kosmos, sofern er vernünftig ist, erkannt werden 4). Metaphysik,
Vernunftwissenschaft ist vermöge dieses Entsprechens möglich.


1) Arist. de anima I, 2 p. 403 b f.
2) Vgl. Theophrast de sensibus 3 bei Diels p. 499.
3) Arist. de anima I, 2 p. 404 b 17 ginoskesthai gar to omoio
to omoion. Er beruft sich hierfür auf den Timäus und auf eine Schrift
peri philosophias, in welcher über Platos Lehre auf Grund der mündlichen
Vorträge desselben berichtet wurde. Vgl. zur ganzen Stelle Trendelenburg
zu Arist. de anima 1877 Ausg. 2, S. 181 ff.
4) Die Fassung ist vorsichtig gewählt worden wegen der bekannten
Schwierigkeiten in Bezug auf die Stellung des göttlichen nous zu den sub-
stantialen Formen und zu den Gestirngeistern.
16*

Vorausſ. d. Ariſt., daß d. geiſt. Vorgang ſich d. Seienden bemächtige.
Vorſtellung von der Erkenntniß des Gleichartigen durch Gleichartiges,
welche die Form dieſer Vorausſetzung für den unter dem Einfluß
ſeiner Naturreligion und Mythologie ſtehenden griechiſchen Geiſt
iſt, in einem abſchließenden Theorem entwickelt; daſſelbe hat auch
eine einflußreiche Schule der neueren Metaphyſik geleitet.

Von welcher Bedeutung der Satz, daß Gleichartiges nur durch
Gleichartiges erkannt werde, für das Nachdenken der älteren
griechiſchen Philoſophen war, hat Ariſtoteles ſelber hervorgehoben 1).
Nach Heraklit wird das Bewegte durch das Bewegte erkannt.
Von Empedocles erwähnt Ariſtoteles bei dieſer Gelegenheit folgende
Verſe:

Erde erblicken wir ſtets durch Erde, durch Waſſer das Waſſer,
Göttlichen Aether durch Aether, verzehrendes Feuer durch Feuer,
Liebe durch Liebe und Streit vermittelſt des traurigen Streites.

Ebenſo ging Parmenides davon aus, daß Verwandtes das
Verwandte empfinde 2); Philolaus entwickelt, die Zahl füge die
Dinge harmoniſch der Seele. Und denſelben Satz, daß Gleiches
durch Gleiches erkannt werde, findet ſchließlich Ariſtoteles bei ſeinem
Lehrer Plato wieder 3).

Dieſe Entwicklung ſchließt Ariſtoteles durch das folgende
Theorem ab. Der Nus, die göttliche Vernunft, iſt das Prinzip,
der Zweck, durch welchen das Vernunftmäßige an den Dingen
wenigſtens mittelbar in jedem Punkte bedingt iſt, und ſo kann
durch die der göttlichen verwandte menſchliche Vernunft der
Kosmos, ſofern er vernünftig iſt, erkannt werden 4). Metaphyſik,
Vernunftwiſſenſchaft iſt vermöge dieſes Entſprechens möglich.


1) Ariſt. de anima I, 2 p. 403 b f.
2) Vgl. Theophraſt de sensibus 3 bei Diels p. 499.
3) Ariſt. de anima I, 2 p. 404 b 17 γινώσκεσϑαι γὰϱ τῷ ὁμοίῳ
τὸ ὅμοιον. Er beruft ſich hierfür auf den Timäus und auf eine Schrift
πεϱὶ φιλοσοφίας, in welcher über Platos Lehre auf Grund der mündlichen
Vorträge deſſelben berichtet wurde. Vgl. zur ganzen Stelle Trendelenburg
zu Ariſt. de anima 1877 Ausg. 2, S. 181 ff.
4) Die Faſſung iſt vorſichtig gewählt worden wegen der bekannten
Schwierigkeiten in Bezug auf die Stellung des göttlichen νοῦς zu den ſub-
ſtantialen Formen und zu den Geſtirngeiſtern.
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[243/0266] Vorausſ. d. Ariſt., daß d. geiſt. Vorgang ſich d. Seienden bemächtige. Vorſtellung von der Erkenntniß des Gleichartigen durch Gleichartiges, welche die Form dieſer Vorausſetzung für den unter dem Einfluß ſeiner Naturreligion und Mythologie ſtehenden griechiſchen Geiſt iſt, in einem abſchließenden Theorem entwickelt; daſſelbe hat auch eine einflußreiche Schule der neueren Metaphyſik geleitet. Von welcher Bedeutung der Satz, daß Gleichartiges nur durch Gleichartiges erkannt werde, für das Nachdenken der älteren griechiſchen Philoſophen war, hat Ariſtoteles ſelber hervorgehoben 1). Nach Heraklit wird das Bewegte durch das Bewegte erkannt. Von Empedocles erwähnt Ariſtoteles bei dieſer Gelegenheit folgende Verſe: Erde erblicken wir ſtets durch Erde, durch Waſſer das Waſſer, Göttlichen Aether durch Aether, verzehrendes Feuer durch Feuer, Liebe durch Liebe und Streit vermittelſt des traurigen Streites. Ebenſo ging Parmenides davon aus, daß Verwandtes das Verwandte empfinde 2); Philolaus entwickelt, die Zahl füge die Dinge harmoniſch der Seele. Und denſelben Satz, daß Gleiches durch Gleiches erkannt werde, findet ſchließlich Ariſtoteles bei ſeinem Lehrer Plato wieder 3). Dieſe Entwicklung ſchließt Ariſtoteles durch das folgende Theorem ab. Der Nus, die göttliche Vernunft, iſt das Prinzip, der Zweck, durch welchen das Vernunftmäßige an den Dingen wenigſtens mittelbar in jedem Punkte bedingt iſt, und ſo kann durch die der göttlichen verwandte menſchliche Vernunft der Kosmos, ſofern er vernünftig iſt, erkannt werden 4). Metaphyſik, Vernunftwiſſenſchaft iſt vermöge dieſes Entſprechens möglich. 1) Ariſt. de anima I, 2 p. 403 b f. 2) Vgl. Theophraſt de sensibus 3 bei Diels p. 499. 3) Ariſt. de anima I, 2 p. 404 b 17 γινώσκεσϑαι γὰϱ τῷ ὁμοίῳ τὸ ὅμοιον. Er beruft ſich hierfür auf den Timäus und auf eine Schrift πεϱὶ φιλοσοφίας, in welcher über Platos Lehre auf Grund der mündlichen Vorträge deſſelben berichtet wurde. Vgl. zur ganzen Stelle Trendelenburg zu Ariſt. de anima 1877 Ausg. 2, S. 181 ff. 4) Die Faſſung iſt vorſichtig gewählt worden wegen der bekannten Schwierigkeiten in Bezug auf die Stellung des göttlichen νοῦς zu den ſub- ſtantialen Formen und zu den Geſtirngeiſtern. 16*

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/266>, abgerufen am 27.11.2024.