leitung möchte dem Politiker und Juristen, dem Theologen und Pädagogen die Aufgabe erleichtern, die Stellung der Sätze und Regeln, welche ihn leiten, zu der umfassenden Wirklichkeit der menschlichen Gesellschaft kennen zu lernen, welcher doch, an dem Punkte, an welchem er eingreift, schließlich die Arbeit seines Lebens gewidmet ist.
Es liegt in der Natur des Gegenstandes, daß die Einsichten, deren es zur Lösung dieser Aufgabe bedarf, in die Wahrheiten zurückreichen, welche der Erkenntniß sowol der Natur als der geschichtlich gesellschaftlichen Welt zu Grunde gelegt werden müssen. So gefaßt begegnet sich diese Aufgabe, die in den Bedürfnissen des praktischen Lebens gegründet ist, mit einem Problem, welches der Zustand der reinen Theorie stellt.
Die Wissenschaften, welche die geschichtlich-gesellschaftliche Wirk- lichkeit zu ihrem Gegenstand haben, suchen angestrengter als je zuvor geschah ihren Zusammenhang untereinander und ihre Be- gründung. Ursachen, die in dem Zustande der einzelnen positiven Wissenschaften liegen, wirken in dieser Richtung zusammen mit den mächtigeren Antrieben, die aus den Erschütterungen der Gesellschaft seit der französischen Revolution entspringen. Die Erkenntniß der Kräfte, welche in der Gesellschaft walten, der Ursachen, welche ihre Erschütterungen hervorgebracht haben, der Hilfsmittel eines ge- sunden Fortschritts, die in ihr vorhanden sind, ist zu einer Lebens- frage für unsere Civilisation geworden. Daher wächst die Be- deutung der Wissenschaften der Gesellschaft gegenüber denen der Natur; in den großen Dimensionen unseres modernen Lebens vollzieht sich eine Umänderung der wissenschaftlichen Interessen, welche der in den kleinen griechischen Politien im 5. und 4. Jahr- hundert vor Christo ähnlich ist, als die Umwälzungen in dieser Staatengesellschaft die negativen Theorien des sophistischen Natur- rechts und ihnen gegenüber die Arbeiten der sokratischen Schulen über den Staat hervorbrachten.
Erſtes einleitendes Buch.
leitung möchte dem Politiker und Juriſten, dem Theologen und Pädagogen die Aufgabe erleichtern, die Stellung der Sätze und Regeln, welche ihn leiten, zu der umfaſſenden Wirklichkeit der menſchlichen Geſellſchaft kennen zu lernen, welcher doch, an dem Punkte, an welchem er eingreift, ſchließlich die Arbeit ſeines Lebens gewidmet iſt.
Es liegt in der Natur des Gegenſtandes, daß die Einſichten, deren es zur Löſung dieſer Aufgabe bedarf, in die Wahrheiten zurückreichen, welche der Erkenntniß ſowol der Natur als der geſchichtlich geſellſchaftlichen Welt zu Grunde gelegt werden müſſen. So gefaßt begegnet ſich dieſe Aufgabe, die in den Bedürfniſſen des praktiſchen Lebens gegründet iſt, mit einem Problem, welches der Zuſtand der reinen Theorie ſtellt.
Die Wiſſenſchaften, welche die geſchichtlich-geſellſchaftliche Wirk- lichkeit zu ihrem Gegenſtand haben, ſuchen angeſtrengter als je zuvor geſchah ihren Zuſammenhang untereinander und ihre Be- gründung. Urſachen, die in dem Zuſtande der einzelnen poſitiven Wiſſenſchaften liegen, wirken in dieſer Richtung zuſammen mit den mächtigeren Antrieben, die aus den Erſchütterungen der Geſellſchaft ſeit der franzöſiſchen Revolution entſpringen. Die Erkenntniß der Kräfte, welche in der Geſellſchaft walten, der Urſachen, welche ihre Erſchütterungen hervorgebracht haben, der Hilfsmittel eines ge- ſunden Fortſchritts, die in ihr vorhanden ſind, iſt zu einer Lebens- frage für unſere Civiliſation geworden. Daher wächſt die Be- deutung der Wiſſenſchaften der Geſellſchaft gegenüber denen der Natur; in den großen Dimenſionen unſeres modernen Lebens vollzieht ſich eine Umänderung der wiſſenſchaftlichen Intereſſen, welche der in den kleinen griechiſchen Politien im 5. und 4. Jahr- hundert vor Chriſto ähnlich iſt, als die Umwälzungen in dieſer Staatengeſellſchaft die negativen Theorien des ſophiſtiſchen Natur- rechts und ihnen gegenüber die Arbeiten der ſokratiſchen Schulen über den Staat hervorbrachten.
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Erſtes einleitendes Buch.
leitung möchte dem Politiker und Juriſten, dem Theologen und
Pädagogen die Aufgabe erleichtern, die Stellung der Sätze und
Regeln, welche ihn leiten, zu der umfaſſenden Wirklichkeit der
menſchlichen Geſellſchaft kennen zu lernen, welcher doch, an dem
Punkte, an welchem er eingreift, ſchließlich die Arbeit ſeines
Lebens gewidmet iſt.
Es liegt in der Natur des Gegenſtandes, daß die Einſichten,
deren es zur Löſung dieſer Aufgabe bedarf, in die Wahrheiten
zurückreichen, welche der Erkenntniß ſowol der Natur als der
geſchichtlich geſellſchaftlichen Welt zu Grunde gelegt werden müſſen.
So gefaßt begegnet ſich dieſe Aufgabe, die in den Bedürfniſſen
des praktiſchen Lebens gegründet iſt, mit einem Problem, welches
der Zuſtand der reinen Theorie ſtellt.
Die Wiſſenſchaften, welche die geſchichtlich-geſellſchaftliche Wirk-
lichkeit zu ihrem Gegenſtand haben, ſuchen angeſtrengter als je
zuvor geſchah ihren Zuſammenhang untereinander und ihre Be-
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Wiſſenſchaften liegen, wirken in dieſer Richtung zuſammen mit den
mächtigeren Antrieben, die aus den Erſchütterungen der Geſellſchaft
ſeit der franzöſiſchen Revolution entſpringen. Die Erkenntniß der
Kräfte, welche in der Geſellſchaft walten, der Urſachen, welche ihre
Erſchütterungen hervorgebracht haben, der Hilfsmittel eines ge-
ſunden Fortſchritts, die in ihr vorhanden ſind, iſt zu einer Lebens-
frage für unſere Civiliſation geworden. Daher wächſt die Be-
deutung der Wiſſenſchaften der Geſellſchaft gegenüber denen der
Natur; in den großen Dimenſionen unſeres modernen Lebens
vollzieht ſich eine Umänderung der wiſſenſchaftlichen Intereſſen,
welche der in den kleinen griechiſchen Politien im 5. und 4. Jahr-
hundert vor Chriſto ähnlich iſt, als die Umwälzungen in dieſer
Staatengeſellſchaft die negativen Theorien des ſophiſtiſchen Natur-
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/27>, abgerufen am 21.11.2024.
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