Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Analysis der Kausalität bei Aristoteles.

Aber die Metaphysik des Aristoteles arbeitet, indem sie das
objektive Verhältniß der Substanz zum Accidens erkennen will, wie
es an diesen Subjekten besteht, mit Beziehungen, welche sie nicht auf-
zuhellen vermag. Was heißt in sich, in einem Anderen sein? Die
Substanz im Gegensatz zum Accidens wird noch von Spinoza durch
das Merkmal von in se esse ausgedrückt; das Accidens ist in der
Substanz. Diese räumliche Vorstellung ist nur ein Bild. Was mit
dem Bilde gemeint sei, ist nicht, wie Gleichheit oder Verschiedenheit,
dem Verstande durchsichtig und kann an keiner äußeren Erfahrung
aufgezeigt werden. In Wirklichkeit ist dieses In-sich-sein in der
Erfahrung der Selbständigkeit, im Selbstbewußtsein gegeben, und
wir verstehen es, weil wir es erleben. Und kann wohl weiter,
ohne daß hinter die logische Form der Verknüpfung von Subjekt
und Prädikat zurückgegangen wird, das Verhältniß dieses meta-
physischen zu dem logischen Ausdruck der in der Substanz gelegenen
Beziehung aufgehellt werden?

In dem vorliegenden Zusammenhang hat der verschiedene
Sinn kein Interesse, in welchem sich Aristoteles dann im Einzelnen
des Ausdrucks Substanz bedient; derselbe entspringt daraus, daß
Aristoteles von den verschiedenen Subjekten, auf welche seine Meta-
physik zurückgeht, spricht: von Materie als Grundlage (upokeime-
non), von dem Wesen, das dem Begriff entspricht (e kata ton
logon ousia), von dem Einzelding (tode ti). Insbesondere an das
Einzelding als die erste Substanz lehnen sich Bestimmungen 1), die
so unvollkommen durchgebildet sind, daß wir von ihnen absehen.

Unter den anderen Klassenbegriffen der Aussage, den Kate-
gorien, haben Thun und Leiden für die Metaphysik die größte
Bedeutung. Der Begriff der Kausalität tritt in der neueren
Metaphysik neben den der Substanz, ja das Streben besteht, die
Substanz in die Kraft aufzulösen. Es ist bezeichnend für die
Metaphysik der Alten, daß die Untersuchung der in diesem Begriff
gelegenen Probleme noch zurücktritt; die Substanzen, ihre Be-
wegungen im Raume, die Formen bilden den Gesichtskreis ihrer

1) Categ. 5 p. 2 a 11.
Dilthey, Einleitung. 17
Die Analyſis der Kauſalität bei Ariſtoteles.

Aber die Metaphyſik des Ariſtoteles arbeitet, indem ſie das
objektive Verhältniß der Subſtanz zum Accidens erkennen will, wie
es an dieſen Subjekten beſteht, mit Beziehungen, welche ſie nicht auf-
zuhellen vermag. Was heißt in ſich, in einem Anderen ſein? Die
Subſtanz im Gegenſatz zum Accidens wird noch von Spinoza durch
das Merkmal von in se esse ausgedrückt; das Accidens iſt in der
Subſtanz. Dieſe räumliche Vorſtellung iſt nur ein Bild. Was mit
dem Bilde gemeint ſei, iſt nicht, wie Gleichheit oder Verſchiedenheit,
dem Verſtande durchſichtig und kann an keiner äußeren Erfahrung
aufgezeigt werden. In Wirklichkeit iſt dieſes In-ſich-ſein in der
Erfahrung der Selbſtändigkeit, im Selbſtbewußtſein gegeben, und
wir verſtehen es, weil wir es erleben. Und kann wohl weiter,
ohne daß hinter die logiſche Form der Verknüpfung von Subjekt
und Prädikat zurückgegangen wird, das Verhältniß dieſes meta-
phyſiſchen zu dem logiſchen Ausdruck der in der Subſtanz gelegenen
Beziehung aufgehellt werden?

In dem vorliegenden Zuſammenhang hat der verſchiedene
Sinn kein Intereſſe, in welchem ſich Ariſtoteles dann im Einzelnen
des Ausdrucks Subſtanz bedient; derſelbe entſpringt daraus, daß
Ariſtoteles von den verſchiedenen Subjekten, auf welche ſeine Meta-
phyſik zurückgeht, ſpricht: von Materie als Grundlage (ὑποκείμε-
νον), von dem Weſen, das dem Begriff entſpricht (ἡ κατὰ τὸν
λόγον οὐσία), von dem Einzelding (τόδε τι). Insbeſondere an das
Einzelding als die erſte Subſtanz lehnen ſich Beſtimmungen 1), die
ſo unvollkommen durchgebildet ſind, daß wir von ihnen abſehen.

Unter den anderen Klaſſenbegriffen der Ausſage, den Kate-
gorien, haben Thun und Leiden für die Metaphyſik die größte
Bedeutung. Der Begriff der Kauſalität tritt in der neueren
Metaphyſik neben den der Subſtanz, ja das Streben beſteht, die
Subſtanz in die Kraft aufzulöſen. Es iſt bezeichnend für die
Metaphyſik der Alten, daß die Unterſuchung der in dieſem Begriff
gelegenen Probleme noch zurücktritt; die Subſtanzen, ihre Be-
wegungen im Raume, die Formen bilden den Geſichtskreis ihrer

1) Categ. 5 p. 2 a 11.
Dilthey, Einleitung. 17
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <pb facs="#f0280" n="257"/>
              <fw place="top" type="header">Die Analy&#x017F;is der Kau&#x017F;alität bei Ari&#x017F;toteles.</fw><lb/>
              <p>Aber die Metaphy&#x017F;ik des Ari&#x017F;toteles arbeitet, indem &#x017F;ie das<lb/>
objektive Verhältniß der Sub&#x017F;tanz zum Accidens erkennen will, wie<lb/>
es an die&#x017F;en Subjekten be&#x017F;teht, mit Beziehungen, welche &#x017F;ie nicht auf-<lb/>
zuhellen vermag. Was heißt in &#x017F;ich, in einem Anderen &#x017F;ein? Die<lb/>
Sub&#x017F;tanz im Gegen&#x017F;atz zum Accidens wird noch von Spinoza durch<lb/>
das Merkmal von <hi rendition="#aq">in se esse</hi> ausgedrückt; das Accidens i&#x017F;t <hi rendition="#g">in</hi> der<lb/>
Sub&#x017F;tanz. Die&#x017F;e räumliche Vor&#x017F;tellung i&#x017F;t nur ein Bild. Was mit<lb/>
dem Bilde gemeint &#x017F;ei, i&#x017F;t nicht, wie Gleichheit oder Ver&#x017F;chiedenheit,<lb/>
dem Ver&#x017F;tande durch&#x017F;ichtig und kann an keiner äußeren Erfahrung<lb/>
aufgezeigt werden. In Wirklichkeit i&#x017F;t die&#x017F;es In-&#x017F;ich-&#x017F;ein in der<lb/>
Erfahrung der Selb&#x017F;tändigkeit, im Selb&#x017F;tbewußt&#x017F;ein gegeben, und<lb/>
wir ver&#x017F;tehen es, weil wir es erleben. Und kann wohl weiter,<lb/>
ohne daß hinter die logi&#x017F;che Form der Verknüpfung von Subjekt<lb/>
und Prädikat zurückgegangen wird, das Verhältniß die&#x017F;es meta-<lb/>
phy&#x017F;i&#x017F;chen zu dem logi&#x017F;chen Ausdruck der in der Sub&#x017F;tanz gelegenen<lb/>
Beziehung aufgehellt werden?</p><lb/>
              <p>In dem vorliegenden Zu&#x017F;ammenhang hat der ver&#x017F;chiedene<lb/>
Sinn kein Intere&#x017F;&#x017F;e, in welchem &#x017F;ich Ari&#x017F;toteles dann im Einzelnen<lb/>
des Ausdrucks Sub&#x017F;tanz bedient; der&#x017F;elbe ent&#x017F;pringt daraus, daß<lb/>
Ari&#x017F;toteles von den ver&#x017F;chiedenen Subjekten, auf welche &#x017F;eine Meta-<lb/>
phy&#x017F;ik zurückgeht, &#x017F;pricht: von Materie als Grundlage (&#x1F51;&#x03C0;&#x03BF;&#x03BA;&#x03B5;&#x03AF;&#x03BC;&#x03B5;-<lb/>
&#x03BD;&#x03BF;&#x03BD;), von dem We&#x017F;en, das dem Begriff ent&#x017F;pricht (&#x1F21; &#x03BA;&#x03B1;&#x03C4;&#x1F70; &#x03C4;&#x1F78;&#x03BD;<lb/>
&#x03BB;&#x03CC;&#x03B3;&#x03BF;&#x03BD; &#x03BF;&#x1F50;&#x03C3;&#x03AF;&#x03B1;), von dem Einzelding (&#x03C4;&#x03CC;&#x03B4;&#x03B5; &#x03C4;&#x03B9;). Insbe&#x017F;ondere an das<lb/>
Einzelding als die er&#x017F;te Sub&#x017F;tanz lehnen &#x017F;ich Be&#x017F;timmungen <note place="foot" n="1)"><hi rendition="#aq">Categ. 5 p. 2 <hi rendition="#sup">a</hi></hi> 11.</note>, die<lb/>
&#x017F;o unvollkommen durchgebildet &#x017F;ind, daß wir von ihnen ab&#x017F;ehen.</p><lb/>
              <p>Unter den anderen Kla&#x017F;&#x017F;enbegriffen der Aus&#x017F;age, den Kate-<lb/>
gorien, haben <hi rendition="#g">Thun</hi> und <hi rendition="#g">Leiden</hi> für die Metaphy&#x017F;ik die größte<lb/>
Bedeutung. Der Begriff der Kau&#x017F;alität tritt in der neueren<lb/>
Metaphy&#x017F;ik neben den der Sub&#x017F;tanz, ja das Streben be&#x017F;teht, die<lb/>
Sub&#x017F;tanz in die Kraft aufzulö&#x017F;en. Es i&#x017F;t bezeichnend für die<lb/>
Metaphy&#x017F;ik der Alten, daß die Unter&#x017F;uchung der in die&#x017F;em Begriff<lb/>
gelegenen Probleme noch zurücktritt; die Sub&#x017F;tanzen, ihre Be-<lb/>
wegungen im Raume, die Formen bilden den Ge&#x017F;ichtskreis ihrer<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Dilthey</hi>, Einleitung. 17</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[257/0280] Die Analyſis der Kauſalität bei Ariſtoteles. Aber die Metaphyſik des Ariſtoteles arbeitet, indem ſie das objektive Verhältniß der Subſtanz zum Accidens erkennen will, wie es an dieſen Subjekten beſteht, mit Beziehungen, welche ſie nicht auf- zuhellen vermag. Was heißt in ſich, in einem Anderen ſein? Die Subſtanz im Gegenſatz zum Accidens wird noch von Spinoza durch das Merkmal von in se esse ausgedrückt; das Accidens iſt in der Subſtanz. Dieſe räumliche Vorſtellung iſt nur ein Bild. Was mit dem Bilde gemeint ſei, iſt nicht, wie Gleichheit oder Verſchiedenheit, dem Verſtande durchſichtig und kann an keiner äußeren Erfahrung aufgezeigt werden. In Wirklichkeit iſt dieſes In-ſich-ſein in der Erfahrung der Selbſtändigkeit, im Selbſtbewußtſein gegeben, und wir verſtehen es, weil wir es erleben. Und kann wohl weiter, ohne daß hinter die logiſche Form der Verknüpfung von Subjekt und Prädikat zurückgegangen wird, das Verhältniß dieſes meta- phyſiſchen zu dem logiſchen Ausdruck der in der Subſtanz gelegenen Beziehung aufgehellt werden? In dem vorliegenden Zuſammenhang hat der verſchiedene Sinn kein Intereſſe, in welchem ſich Ariſtoteles dann im Einzelnen des Ausdrucks Subſtanz bedient; derſelbe entſpringt daraus, daß Ariſtoteles von den verſchiedenen Subjekten, auf welche ſeine Meta- phyſik zurückgeht, ſpricht: von Materie als Grundlage (ὑποκείμε- νον), von dem Weſen, das dem Begriff entſpricht (ἡ κατὰ τὸν λόγον οὐσία), von dem Einzelding (τόδε τι). Insbeſondere an das Einzelding als die erſte Subſtanz lehnen ſich Beſtimmungen 1), die ſo unvollkommen durchgebildet ſind, daß wir von ihnen abſehen. Unter den anderen Klaſſenbegriffen der Ausſage, den Kate- gorien, haben Thun und Leiden für die Metaphyſik die größte Bedeutung. Der Begriff der Kauſalität tritt in der neueren Metaphyſik neben den der Subſtanz, ja das Streben beſteht, die Subſtanz in die Kraft aufzulöſen. Es iſt bezeichnend für die Metaphyſik der Alten, daß die Unterſuchung der in dieſem Begriff gelegenen Probleme noch zurücktritt; die Subſtanzen, ihre Be- wegungen im Raume, die Formen bilden den Geſichtskreis ihrer 1) Categ. 5 p. 2 a 11. Dilthey, Einleitung. 17

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/280
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 257. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/280>, abgerufen am 28.11.2024.