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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Neuer Vers., d. Verhältn. d. substantialen Formen z. d. Dingen z. bestimmen.
findet nur da Wissen, wo durch den allgemeinen Begriff er-
kannt wird; nur so weit die Fackel der allgemeinen Begriffe in die
Einzelsubstanz hineinleuchtet, vermag diese erhellt zu werden. Der
allgemeine Begriff macht die Wesensbestimmung oder Form
des Dings sichtbar; diese bildet seine Substanz in einem
sekundären Sinne
, so nämlich, wie sie für den Verstand da
ist (e kata ton logon ousia). Der Grund dieser Sätze über das
Wissen liegt in der Voraussetzung, welche die Wurzel aller meta-
physischen Abstraktion ist; das unmittelbare Wissen und Erfahren,
in welchem das Einzelne für uns da ist, wird für geringer und
unvollkommener gehalten, als der allgemeine Begriff oder Satz.
Dieser Voraussetzung entspricht die metaphysische Annahme: das
Werthvolle an den Einzelsubstanzen und das dieselben mit der Gottheit
Verknüpfende sei das Gedankenmäßige in ihnen. -- In dem Wider-
spruch
zwischen diesen Voraussetzungen und der gesunden
Einsicht des Aristoteles über die Einzelsubstanz zeigt sich von
neuem die Unmöglichkeit, auf dem Standpunkt der Metaphysik
das Verhältniß des Einzeldinges zu dem, was die allgemeinen
Begriffe als den Inhalt der Welt ausdrücken, zu bestimmen. Das
einzelne Ding hat nach Aristoteles allein volle Realität, aber es
giebt nur von der allgemeinen Wesensbestimmung, an welcher es
theilnimmt, ein Wissen; hieraus ergeben sich zwei Schwierigkeiten.
Es widerspricht dem Grundgedanken von der Erkennbarkeit des
Kosmos, daß das an ihm wahrhaft Reale unerkennbar bleibt. So-
dann wird nach den allgemeinen Voraussetzungen der Ideenlehre,
dem Wissen von den allgemeinen Wesensbestimmungen entsprechend,
eine Realität der Formen angenommen, und diese Annahme führt
nun zu dem halben und unglücklichen Begriff einer Substanz,
welche doch nicht die Wirklichkeit der Einzelsubstanz hat. Kann
diese Verwirrung, welche in dem doppelten Sinne von Sein, von
Substanz liegt, gelöst werden, bevor die Erkenntnißtheorie die
einfache Wahrheit entwickelt, daß die Art, in welcher das Denken
das Allgemeine setzt, keine Vergleichbarkeit hat mit der Art, wie
die Wahrnehmung die Wirklichkeit des Einzelnen erfährt? bevor

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Neuer Verſ., d. Verhältn. d. ſubſtantialen Formen z. d. Dingen z. beſtimmen.
findet nur da Wiſſen, wo durch den allgemeinen Begriff er-
kannt wird; nur ſo weit die Fackel der allgemeinen Begriffe in die
Einzelſubſtanz hineinleuchtet, vermag dieſe erhellt zu werden. Der
allgemeine Begriff macht die Weſensbeſtimmung oder Form
des Dings ſichtbar; dieſe bildet ſeine Subſtanz in einem
ſekundären Sinne
, ſo nämlich, wie ſie für den Verſtand da
iſt (ἡ κατὰ τὸν λόγον οὐσία). Der Grund dieſer Sätze über das
Wiſſen liegt in der Vorausſetzung, welche die Wurzel aller meta-
phyſiſchen Abſtraktion iſt; das unmittelbare Wiſſen und Erfahren,
in welchem das Einzelne für uns da iſt, wird für geringer und
unvollkommener gehalten, als der allgemeine Begriff oder Satz.
Dieſer Vorausſetzung entſpricht die metaphyſiſche Annahme: das
Werthvolle an den Einzelſubſtanzen und das dieſelben mit der Gottheit
Verknüpfende ſei das Gedankenmäßige in ihnen. — In dem Wider-
ſpruch
zwiſchen dieſen Vorausſetzungen und der geſunden
Einſicht des Ariſtoteles über die Einzelſubſtanz zeigt ſich von
neuem die Unmöglichkeit, auf dem Standpunkt der Metaphyſik
das Verhältniß des Einzeldinges zu dem, was die allgemeinen
Begriffe als den Inhalt der Welt ausdrücken, zu beſtimmen. Das
einzelne Ding hat nach Ariſtoteles allein volle Realität, aber es
giebt nur von der allgemeinen Weſensbeſtimmung, an welcher es
theilnimmt, ein Wiſſen; hieraus ergeben ſich zwei Schwierigkeiten.
Es widerſpricht dem Grundgedanken von der Erkennbarkeit des
Kosmos, daß das an ihm wahrhaft Reale unerkennbar bleibt. So-
dann wird nach den allgemeinen Vorausſetzungen der Ideenlehre,
dem Wiſſen von den allgemeinen Weſensbeſtimmungen entſprechend,
eine Realität der Formen angenommen, und dieſe Annahme führt
nun zu dem halben und unglücklichen Begriff einer Subſtanz,
welche doch nicht die Wirklichkeit der Einzelſubſtanz hat. Kann
dieſe Verwirrung, welche in dem doppelten Sinne von Sein, von
Subſtanz liegt, gelöſt werden, bevor die Erkenntnißtheorie die
einfache Wahrheit entwickelt, daß die Art, in welcher das Denken
das Allgemeine ſetzt, keine Vergleichbarkeit hat mit der Art, wie
die Wahrnehmung die Wirklichkeit des Einzelnen erfährt? bevor

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[259/0282] Neuer Verſ., d. Verhältn. d. ſubſtantialen Formen z. d. Dingen z. beſtimmen. findet nur da Wiſſen, wo durch den allgemeinen Begriff er- kannt wird; nur ſo weit die Fackel der allgemeinen Begriffe in die Einzelſubſtanz hineinleuchtet, vermag dieſe erhellt zu werden. Der allgemeine Begriff macht die Weſensbeſtimmung oder Form des Dings ſichtbar; dieſe bildet ſeine Subſtanz in einem ſekundären Sinne, ſo nämlich, wie ſie für den Verſtand da iſt (ἡ κατὰ τὸν λόγον οὐσία). Der Grund dieſer Sätze über das Wiſſen liegt in der Vorausſetzung, welche die Wurzel aller meta- phyſiſchen Abſtraktion iſt; das unmittelbare Wiſſen und Erfahren, in welchem das Einzelne für uns da iſt, wird für geringer und unvollkommener gehalten, als der allgemeine Begriff oder Satz. Dieſer Vorausſetzung entſpricht die metaphyſiſche Annahme: das Werthvolle an den Einzelſubſtanzen und das dieſelben mit der Gottheit Verknüpfende ſei das Gedankenmäßige in ihnen. — In dem Wider- ſpruch zwiſchen dieſen Vorausſetzungen und der geſunden Einſicht des Ariſtoteles über die Einzelſubſtanz zeigt ſich von neuem die Unmöglichkeit, auf dem Standpunkt der Metaphyſik das Verhältniß des Einzeldinges zu dem, was die allgemeinen Begriffe als den Inhalt der Welt ausdrücken, zu beſtimmen. Das einzelne Ding hat nach Ariſtoteles allein volle Realität, aber es giebt nur von der allgemeinen Weſensbeſtimmung, an welcher es theilnimmt, ein Wiſſen; hieraus ergeben ſich zwei Schwierigkeiten. Es widerſpricht dem Grundgedanken von der Erkennbarkeit des Kosmos, daß das an ihm wahrhaft Reale unerkennbar bleibt. So- dann wird nach den allgemeinen Vorausſetzungen der Ideenlehre, dem Wiſſen von den allgemeinen Weſensbeſtimmungen entſprechend, eine Realität der Formen angenommen, und dieſe Annahme führt nun zu dem halben und unglücklichen Begriff einer Subſtanz, welche doch nicht die Wirklichkeit der Einzelſubſtanz hat. Kann dieſe Verwirrung, welche in dem doppelten Sinne von Sein, von Subſtanz liegt, gelöſt werden, bevor die Erkenntnißtheorie die einfache Wahrheit entwickelt, daß die Art, in welcher das Denken das Allgemeine ſetzt, keine Vergleichbarkeit hat mit der Art, wie die Wahrnehmung die Wirklichkeit des Einzelnen erfährt? bevor 17*

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 259. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/282>, abgerufen am 28.11.2024.