demnach die falsche, metaphysische Beziehung durch eine haltbare, erkenntnißtheoretische ersetzt wird 1)?
Innerhalb der Einzelwissenschaften hat diese Metaphysik der substantialen Formen noch auffälligere Konsequenzen. Die mit ihr verbundene Wissenschaft verzichtet auf die Erkenntniß des Veränderlichen an ihrem Gegenstande, denn sie faßt nur die bleibenden Formen auf. Sie giebt die Erkenntniß des Zu- fälligen auf, denn sie ist allein auf die Wesensbestimmungen gerichtet. Wenige Minuten nur fehlten Kepler, um welche seine Berechnung des Mars von der Beobachtung abwich, aber sie ließen ihn nicht ruhen und wurden der Antrieb seiner großen Entdeckung. Diese Metaphysik dagegen schob den ganzen ihr uner- klärbaren Rest, wie sie ihn an den veränderlichen Erscheinungen zurückließ, in die Materie. So erklärte Aristoteles ausdrücklich, daß die individuellen Verschiedenheiten innerhalb einer Art, wie die Farbe der Augen, die Höhe der Stimme für die Erklärung aus dem Zwecke gleichgiltig seien: sie wurden den Einwirkungen des Stoffes zugewiesen 2). Erst als man die Abweichungen vom Typus, die Zwischenglieder zwischen einem Typus und einem anderen, die Veränderungen in die Rechnung aufnahm, durchbrach die Wissenschaft diese Schranken der aristotelischen Metaphysik, und die Erkenntniß durch das Gesetz des Veränderlichen sowie durch die Entwicklungsgeschichte trat hervor.
3. Indem Aristoteles so die Realität der Ideen in die wirkliche Welt verlegte, entstand die Zerlegung dieser Wirklichkeit in die vier Prinzipien: Stoff, Form, Zweck und wirkende Ursache, und es traten als die letzten und die Zergliederung der Wirklichkeit abschließenden Begriffe seines Systems die von Dynamis (Ver- mögen) und Energie hervor.
Das Denken hebt am Kosmos als das Unveränderliche
1) Aus derselben metaphysischen Behandlungsweise des Problems ent- springt die unselige, nicht aufzulösende Frage, ob die Substanz in der Form oder dem Stoff oder dem Einzelding zu suchen sei. Vgl. Arist. Metaph. VII, 3 p. 1028 b 33 und die zutreffende Ausführung bei Zeller a. a. O. 309 ff. 344 ff.
2)de gen. anim. V, 1 p. 778 a 30.
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
demnach die falſche, metaphyſiſche Beziehung durch eine haltbare, erkenntnißtheoretiſche erſetzt wird 1)?
Innerhalb der Einzelwiſſenſchaften hat dieſe Metaphyſik der ſubſtantialen Formen noch auffälligere Konſequenzen. Die mit ihr verbundene Wiſſenſchaft verzichtet auf die Erkenntniß des Veränderlichen an ihrem Gegenſtande, denn ſie faßt nur die bleibenden Formen auf. Sie giebt die Erkenntniß des Zu- fälligen auf, denn ſie iſt allein auf die Weſensbeſtimmungen gerichtet. Wenige Minuten nur fehlten Kepler, um welche ſeine Berechnung des Mars von der Beobachtung abwich, aber ſie ließen ihn nicht ruhen und wurden der Antrieb ſeiner großen Entdeckung. Dieſe Metaphyſik dagegen ſchob den ganzen ihr uner- klärbaren Reſt, wie ſie ihn an den veränderlichen Erſcheinungen zurückließ, in die Materie. So erklärte Ariſtoteles ausdrücklich, daß die individuellen Verſchiedenheiten innerhalb einer Art, wie die Farbe der Augen, die Höhe der Stimme für die Erklärung aus dem Zwecke gleichgiltig ſeien: ſie wurden den Einwirkungen des Stoffes zugewieſen 2). Erſt als man die Abweichungen vom Typus, die Zwiſchenglieder zwiſchen einem Typus und einem anderen, die Veränderungen in die Rechnung aufnahm, durchbrach die Wiſſenſchaft dieſe Schranken der ariſtoteliſchen Metaphyſik, und die Erkenntniß durch das Geſetz des Veränderlichen ſowie durch die Entwicklungsgeſchichte trat hervor.
3. Indem Ariſtoteles ſo die Realität der Ideen in die wirkliche Welt verlegte, entſtand die Zerlegung dieſer Wirklichkeit in die vier Prinzipien: Stoff, Form, Zweck und wirkende Urſache, und es traten als die letzten und die Zergliederung der Wirklichkeit abſchließenden Begriffe ſeines Syſtems die von Dynamis (Ver- mögen) und Energie hervor.
Das Denken hebt am Kosmos als das Unveränderliche
1) Aus derſelben metaphyſiſchen Behandlungsweiſe des Problems ent- ſpringt die unſelige, nicht aufzulöſende Frage, ob die Subſtanz in der Form oder dem Stoff oder dem Einzelding zu ſuchen ſei. Vgl. Ariſt. Metaph. VII, 3 p. 1028 b 33 und die zutreffende Ausführung bei Zeller a. a. O. 309 ff. 344 ff.
2)de gen. anim. V, 1 p. 778 a 30.
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Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
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Innerhalb der Einzelwiſſenſchaften hat dieſe Metaphyſik der
ſubſtantialen Formen noch auffälligere Konſequenzen. Die mit ihr
verbundene Wiſſenſchaft verzichtet auf die Erkenntniß des
Veränderlichen an ihrem Gegenſtande, denn ſie faßt nur
die bleibenden Formen auf. Sie giebt die Erkenntniß des Zu-
fälligen auf, denn ſie iſt allein auf die Weſensbeſtimmungen
gerichtet. Wenige Minuten nur fehlten Kepler, um welche ſeine
Berechnung des Mars von der Beobachtung abwich, aber ſie
ließen ihn nicht ruhen und wurden der Antrieb ſeiner großen
Entdeckung. Dieſe Metaphyſik dagegen ſchob den ganzen ihr uner-
klärbaren Reſt, wie ſie ihn an den veränderlichen Erſcheinungen
zurückließ, in die Materie. So erklärte Ariſtoteles ausdrücklich,
daß die individuellen Verſchiedenheiten innerhalb einer Art, wie
die Farbe der Augen, die Höhe der Stimme für die Erklärung
aus dem Zwecke gleichgiltig ſeien: ſie wurden den Einwirkungen
des Stoffes zugewieſen 2). Erſt als man die Abweichungen vom
Typus, die Zwiſchenglieder zwiſchen einem Typus und einem
anderen, die Veränderungen in die Rechnung aufnahm, durchbrach
die Wiſſenſchaft dieſe Schranken der ariſtoteliſchen Metaphyſik, und
die Erkenntniß durch das Geſetz des Veränderlichen ſowie durch
die Entwicklungsgeſchichte trat hervor.
3. Indem Ariſtoteles ſo die Realität der Ideen in die wirkliche
Welt verlegte, entſtand die Zerlegung dieſer Wirklichkeit in die
vier Prinzipien: Stoff, Form, Zweck und wirkende Urſache, und
es traten als die letzten und die Zergliederung der Wirklichkeit
abſchließenden Begriffe ſeines Syſtems die von Dynamis (Ver-
mögen) und Energie hervor.
Das Denken hebt am Kosmos als das Unveränderliche
1) Aus derſelben metaphyſiſchen Behandlungsweiſe des Problems ent-
ſpringt die unſelige, nicht aufzulöſende Frage, ob die Subſtanz in der Form
oder dem Stoff oder dem Einzelding zu ſuchen ſei. Vgl. Ariſt. Metaph. VII,
3 p. 1028 b 33 und die zutreffende Ausführung bei Zeller a. a. O. 309 ff.
344 ff.
2) de gen. anim. V, 1 p. 778 a 30.
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/283>, abgerufen am 16.06.2024.
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