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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Verhältniß von Bewegung, Zweck und Materie.
die Form heraus, die Tochter der platonischen Idee. Diese
enthält das Wesen der Einzelsubstanzen in sich. Da die unver-
änderlichen Formen in dem Entstehen und Vergehen enthalten sind,
ihr Wechsel aber einen Träger fordert, sondern wir an dem
Kosmos als ein zweites ihn konstituirendes Prinzip die Materie
ab. In dem Naturlauf ist dann die Form sowohl der Zweck,
dessen Realisation derselbe zustrebt, als die bewegende Ur-
sache
, welche von innen aus das Ding, gleichsam als seine Seele 1),
in Bewegung setzt oder von außen seine Bewegung bewirkt. So-
nach leitet diese Betrachtungsweise das, was im Naturlauf auf-
tritt, nicht aus seinen Bedingungen in diesem ab, welche nach
Gesetzen zusammenwirken, sondern an die Stelle eines Zusammen-
wirkens von Ursachen tritt der Begriff der Dynamis, des Ver-
mögens, und ihm entspricht der Begriff der zweckmäßigen Wirk-
lichkeit oder Energie.

In diesen Begriffen besteht der Zusammenhang der Wissen-
schaft des Aristoteles, sie werden schon in den ersten Büchern der
Metaphysik als die Mittel der Naturauffassung entwickelt und
führen durch das Bewegungssystem des Kosmos bis zum unbe-
wegten Beweger. Denn dies ist die Seele der aristotelischen
Naturauffassung: nicht die Sonderung von bewegender Ursache,
Zweck und Form -- dieselbe ist nur analytisches Hilfsmittel --, viel-
mehr die Ineinssetzung des Zweckes, welcher Form ist, mit der
bewegenden Ursache sowie die Sonderung dieses dreifach-einen
realen Faktors von dem realen, wenn auch im Kosmos nicht
isolirt vorkommenden Faktor: der Materie. Und hier entscheidet
sich auch der Charakter seiner Naturwissenschaft. Im neueren
Denken ist das Studium der Bewegungen losgelöst von der Auf-
fassung des Zweckes; die Bewegung wird durch ihr allein eigene
Elemente bestimmt; so ist die Konsequenz der neueren Naturauf-
fassung, daß sie, wenn sie von der metaphysischen Verwerthung
der Ideen nicht lassen will, dieselbe von der mechanischen Betrach-
tungsweise scheidet, wie Leibniz gethan hat. Bei Aristoteles da-
gegen verbleibt der Begriff der Bewegung an die Formen des

1) Arist. de gen. animal. III, 11 p. 762 a 18.

Verhältniß von Bewegung, Zweck und Materie.
die Form heraus, die Tochter der platoniſchen Idee. Dieſe
enthält das Weſen der Einzelſubſtanzen in ſich. Da die unver-
änderlichen Formen in dem Entſtehen und Vergehen enthalten ſind,
ihr Wechſel aber einen Träger fordert, ſondern wir an dem
Kosmos als ein zweites ihn konſtituirendes Prinzip die Materie
ab. In dem Naturlauf iſt dann die Form ſowohl der Zweck,
deſſen Realiſation derſelbe zuſtrebt, als die bewegende Ur-
ſache
, welche von innen aus das Ding, gleichſam als ſeine Seele 1),
in Bewegung ſetzt oder von außen ſeine Bewegung bewirkt. So-
nach leitet dieſe Betrachtungsweiſe das, was im Naturlauf auf-
tritt, nicht aus ſeinen Bedingungen in dieſem ab, welche nach
Geſetzen zuſammenwirken, ſondern an die Stelle eines Zuſammen-
wirkens von Urſachen tritt der Begriff der Dynamis, des Ver-
mögens, und ihm entſpricht der Begriff der zweckmäßigen Wirk-
lichkeit oder Energie.

In dieſen Begriffen beſteht der Zuſammenhang der Wiſſen-
ſchaft des Ariſtoteles, ſie werden ſchon in den erſten Büchern der
Metaphyſik als die Mittel der Naturauffaſſung entwickelt und
führen durch das Bewegungsſyſtem des Kosmos bis zum unbe-
wegten Beweger. Denn dies iſt die Seele der ariſtoteliſchen
Naturauffaſſung: nicht die Sonderung von bewegender Urſache,
Zweck und Form — dieſelbe iſt nur analytiſches Hilfsmittel —, viel-
mehr die Ineinsſetzung des Zweckes, welcher Form iſt, mit der
bewegenden Urſache ſowie die Sonderung dieſes dreifach-einen
realen Faktors von dem realen, wenn auch im Kosmos nicht
iſolirt vorkommenden Faktor: der Materie. Und hier entſcheidet
ſich auch der Charakter ſeiner Naturwiſſenſchaft. Im neueren
Denken iſt das Studium der Bewegungen losgelöſt von der Auf-
faſſung des Zweckes; die Bewegung wird durch ihr allein eigene
Elemente beſtimmt; ſo iſt die Konſequenz der neueren Naturauf-
faſſung, daß ſie, wenn ſie von der metaphyſiſchen Verwerthung
der Ideen nicht laſſen will, dieſelbe von der mechaniſchen Betrach-
tungsweiſe ſcheidet, wie Leibniz gethan hat. Bei Ariſtoteles da-
gegen verbleibt der Begriff der Bewegung an die Formen des

1) Ariſt. de gen. animal. III, 11 p. 762 a 18.
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[261/0284] Verhältniß von Bewegung, Zweck und Materie. die Form heraus, die Tochter der platoniſchen Idee. Dieſe enthält das Weſen der Einzelſubſtanzen in ſich. Da die unver- änderlichen Formen in dem Entſtehen und Vergehen enthalten ſind, ihr Wechſel aber einen Träger fordert, ſondern wir an dem Kosmos als ein zweites ihn konſtituirendes Prinzip die Materie ab. In dem Naturlauf iſt dann die Form ſowohl der Zweck, deſſen Realiſation derſelbe zuſtrebt, als die bewegende Ur- ſache, welche von innen aus das Ding, gleichſam als ſeine Seele 1), in Bewegung ſetzt oder von außen ſeine Bewegung bewirkt. So- nach leitet dieſe Betrachtungsweiſe das, was im Naturlauf auf- tritt, nicht aus ſeinen Bedingungen in dieſem ab, welche nach Geſetzen zuſammenwirken, ſondern an die Stelle eines Zuſammen- wirkens von Urſachen tritt der Begriff der Dynamis, des Ver- mögens, und ihm entſpricht der Begriff der zweckmäßigen Wirk- lichkeit oder Energie. In dieſen Begriffen beſteht der Zuſammenhang der Wiſſen- ſchaft des Ariſtoteles, ſie werden ſchon in den erſten Büchern der Metaphyſik als die Mittel der Naturauffaſſung entwickelt und führen durch das Bewegungsſyſtem des Kosmos bis zum unbe- wegten Beweger. Denn dies iſt die Seele der ariſtoteliſchen Naturauffaſſung: nicht die Sonderung von bewegender Urſache, Zweck und Form — dieſelbe iſt nur analytiſches Hilfsmittel —, viel- mehr die Ineinsſetzung des Zweckes, welcher Form iſt, mit der bewegenden Urſache ſowie die Sonderung dieſes dreifach-einen realen Faktors von dem realen, wenn auch im Kosmos nicht iſolirt vorkommenden Faktor: der Materie. Und hier entſcheidet ſich auch der Charakter ſeiner Naturwiſſenſchaft. Im neueren Denken iſt das Studium der Bewegungen losgelöſt von der Auf- faſſung des Zweckes; die Bewegung wird durch ihr allein eigene Elemente beſtimmt; ſo iſt die Konſequenz der neueren Naturauf- faſſung, daß ſie, wenn ſie von der metaphyſiſchen Verwerthung der Ideen nicht laſſen will, dieſelbe von der mechaniſchen Betrach- tungsweiſe ſcheidet, wie Leibniz gethan hat. Bei Ariſtoteles da- gegen verbleibt der Begriff der Bewegung an die Formen des 1) Ariſt. de gen. animal. III, 11 p. 762 a 18.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 261. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/284>, abgerufen am 28.11.2024.