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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.

Seit Anaxagoras ist die herrschende europäische Metaphysik
Begründung der Lehre von einer letzten, intelligenten und der
Welt gegenüber selbständigen Ursache derselben. Diese Lehre tritt
aber hier unter veränderte Bedingungen der metaphysischen Be-
griffe und der allgemeinwissenschaftlichen Lage. So erfährt sie eine
Reihe von Umgestaltungen während des auf Anaxagoras folgenden
zweitausendjährigen Lebens der Metaphysik. Die Umgestaltungen
liegen in den Schriften von Plato, Aristoteles und den Philosophen
des Mittelalters mit zureichender Klarheit vor und erfordern daher
keine eingehende Erörterung des Thatbestandes. Der Zusammenhang
dieser Geschichte verlangt nur den Nachweis, daß die Metaphysik
fortdauernd an astronomischen Schlüssen einen positiven,
wissenschaftlichen Rückhalt hatte, welcher ihr unerschütterliche
Sicherheit gab. Diese Schlüsse, unterstützt durch solche aus der
Zweckmäßigkeit der Organismen, haben erheblich dazu beigetragen,
daß die Metaphysik zweitausend Jahre den Charakter einer Weltmacht
behielt: königliche Gewalt, nicht in dem engen Kreise von Gelehrten,
sondern über die Gemüther aller Gebildeten, wodurch auch die
ungebildeten Massen ihr untergeordnet blieben. Das religiöse
Erlebniß, welches für den Glauben an Gott die tiefste und unzer-
störbare Grundlage enthält, wird nur bei einer Minderheit der
Menschen in der von dem Wirbel der egoistischen Interessen nicht
gestörten Besonnenheit eines gläubigen Herzens verstanden. Die
Autorität der Kirche ist im Mittelalter oft bestritten worden.
Die äußeren Mittel des kirchlichen Gehorsams und des kirchlichen
Strafsystems haben beständige gährende Bewegungen und die
schließliche Zerspaltung der Kirche nicht aufhalten können. Aber
unerschüttert steht in diesen zweitausend Jahren die auf die Lage
der europäischen Wissenschaft gegründete Metaphysik der intelligen-
ten Weltursache.

Aristoteles hat auch an diesem Punkte die Gestalt der euro-
päischen Metaphysik wesentlich durch die Art, wie er die wichtigsten
Thatsachen und Schlüsse zusammenfaßte, bestimmt. Die Gottheit
ist der Beweger, durch welchen schließlich alle Bewegungen inner-
halb des Kosmos (wenn auch auf vermittelte Weise) bedingt sind;

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.

Seit Anaxagoras iſt die herrſchende europäiſche Metaphyſik
Begründung der Lehre von einer letzten, intelligenten und der
Welt gegenüber ſelbſtändigen Urſache derſelben. Dieſe Lehre tritt
aber hier unter veränderte Bedingungen der metaphyſiſchen Be-
griffe und der allgemeinwiſſenſchaftlichen Lage. So erfährt ſie eine
Reihe von Umgeſtaltungen während des auf Anaxagoras folgenden
zweitauſendjährigen Lebens der Metaphyſik. Die Umgeſtaltungen
liegen in den Schriften von Plato, Ariſtoteles und den Philoſophen
des Mittelalters mit zureichender Klarheit vor und erfordern daher
keine eingehende Erörterung des Thatbeſtandes. Der Zuſammenhang
dieſer Geſchichte verlangt nur den Nachweis, daß die Metaphyſik
fortdauernd an aſtronomiſchen Schlüſſen einen poſitiven,
wiſſenſchaftlichen Rückhalt hatte, welcher ihr unerſchütterliche
Sicherheit gab. Dieſe Schlüſſe, unterſtützt durch ſolche aus der
Zweckmäßigkeit der Organismen, haben erheblich dazu beigetragen,
daß die Metaphyſik zweitauſend Jahre den Charakter einer Weltmacht
behielt: königliche Gewalt, nicht in dem engen Kreiſe von Gelehrten,
ſondern über die Gemüther aller Gebildeten, wodurch auch die
ungebildeten Maſſen ihr untergeordnet blieben. Das religiöſe
Erlebniß, welches für den Glauben an Gott die tiefſte und unzer-
ſtörbare Grundlage enthält, wird nur bei einer Minderheit der
Menſchen in der von dem Wirbel der egoiſtiſchen Intereſſen nicht
geſtörten Beſonnenheit eines gläubigen Herzens verſtanden. Die
Autorität der Kirche iſt im Mittelalter oft beſtritten worden.
Die äußeren Mittel des kirchlichen Gehorſams und des kirchlichen
Strafſyſtems haben beſtändige gährende Bewegungen und die
ſchließliche Zerſpaltung der Kirche nicht aufhalten können. Aber
unerſchüttert ſteht in dieſen zweitauſend Jahren die auf die Lage
der europäiſchen Wiſſenſchaft gegründete Metaphyſik der intelligen-
ten Welturſache.

Ariſtoteles hat auch an dieſem Punkte die Geſtalt der euro-
päiſchen Metaphyſik weſentlich durch die Art, wie er die wichtigſten
Thatſachen und Schlüſſe zuſammenfaßte, beſtimmt. Die Gottheit
iſt der Beweger, durch welchen ſchließlich alle Bewegungen inner-
halb des Kosmos (wenn auch auf vermittelte Weiſe) bedingt ſind;

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[266/0289] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Seit Anaxagoras iſt die herrſchende europäiſche Metaphyſik Begründung der Lehre von einer letzten, intelligenten und der Welt gegenüber ſelbſtändigen Urſache derſelben. Dieſe Lehre tritt aber hier unter veränderte Bedingungen der metaphyſiſchen Be- griffe und der allgemeinwiſſenſchaftlichen Lage. So erfährt ſie eine Reihe von Umgeſtaltungen während des auf Anaxagoras folgenden zweitauſendjährigen Lebens der Metaphyſik. Die Umgeſtaltungen liegen in den Schriften von Plato, Ariſtoteles und den Philoſophen des Mittelalters mit zureichender Klarheit vor und erfordern daher keine eingehende Erörterung des Thatbeſtandes. Der Zuſammenhang dieſer Geſchichte verlangt nur den Nachweis, daß die Metaphyſik fortdauernd an aſtronomiſchen Schlüſſen einen poſitiven, wiſſenſchaftlichen Rückhalt hatte, welcher ihr unerſchütterliche Sicherheit gab. Dieſe Schlüſſe, unterſtützt durch ſolche aus der Zweckmäßigkeit der Organismen, haben erheblich dazu beigetragen, daß die Metaphyſik zweitauſend Jahre den Charakter einer Weltmacht behielt: königliche Gewalt, nicht in dem engen Kreiſe von Gelehrten, ſondern über die Gemüther aller Gebildeten, wodurch auch die ungebildeten Maſſen ihr untergeordnet blieben. Das religiöſe Erlebniß, welches für den Glauben an Gott die tiefſte und unzer- ſtörbare Grundlage enthält, wird nur bei einer Minderheit der Menſchen in der von dem Wirbel der egoiſtiſchen Intereſſen nicht geſtörten Beſonnenheit eines gläubigen Herzens verſtanden. Die Autorität der Kirche iſt im Mittelalter oft beſtritten worden. Die äußeren Mittel des kirchlichen Gehorſams und des kirchlichen Strafſyſtems haben beſtändige gährende Bewegungen und die ſchließliche Zerſpaltung der Kirche nicht aufhalten können. Aber unerſchüttert ſteht in dieſen zweitauſend Jahren die auf die Lage der europäiſchen Wiſſenſchaft gegründete Metaphyſik der intelligen- ten Welturſache. Ariſtoteles hat auch an dieſem Punkte die Geſtalt der euro- päiſchen Metaphyſik weſentlich durch die Art, wie er die wichtigſten Thatſachen und Schlüſſe zuſammenfaßte, beſtimmt. Die Gottheit iſt der Beweger, durch welchen ſchließlich alle Bewegungen inner- halb des Kosmos (wenn auch auf vermittelte Weiſe) bedingt ſind;

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/289>, abgerufen am 27.11.2024.