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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
schritt der Naturwissenschaften sich entwickelt hat; diese Entwicklung
steht unter eigenen Bedingungen, in Betreff deren auf das erste
Buch zurückverwiesen wird. Und dieselben bestimmen nun zunächst
das Verhältniß, in welchem die griechische Metaphysik zu dem
Studium der geistigen Thatsachen steht.

Der Erfahrungskreis der gesellschaftlich-geschichtlichen Wirklichkeit
hat sich in den Generationen selber erst aufgebaut, welche über
ihn reflektirten. Die Natur stand der Schule von Milet so gut
als ein abgeschlossenes Ganze gegenüber, wie einem heutigen
Forscher: es galt nur, die vorhandene zu erkennen. Dagegen ent-
stand erst zu der Zeit, in welcher die griechische Wissenschaft auftrat,
allmählich der umfassendere geschichtlich-gesellschaftliche Erfahrungs-
kreis, welcher der Gegenstand der Geisteswissenschaften ist. Die
Zustände der umliegenden, uralten Kulturstaaten waren den grie-
chischen Stämmen zu wenig bekannt und zu fremdartig, als daß sie
Gegenstand einer wirklich fruchtbaren Forschung hätten werden
können. Und zwar stoßen wir hier wieder an eine Grenze des
griechischen Geistes, welche in dem tiefsten Lebensgefühl des grie-
chischen Menschen begründet ist. Ein energisches Interesse der
Auffassung zeigt der Grieche nur für den Griechen und in zweiter
Linie für den verwandten Italiker. Wol beweist der Sagenkreis, der
das Haupt des Solon als des großen Repräsentanten maßvoller
griechischer Lebens- und Staatskunst umgiebt, den lebendigen An-
theil an den großen Katastrophen jener Kulturländer. Die Ge-
schichtschreibung des Herodot macht die regsame Neubegier grie-
chischer Forscher sichtbar in Bezug auf fremde Länder und Völker.
Die Kyropädie erweist, wie die Leistungsfähigkeit monarchischer
Einrichtungen die Bürger dieser freien, aber politisch und militärisch
unzureichend geschützten Stadtstaaten beschäftigte. Aber der griechische
Forscher zeigt kein Bedürfniß, vermittelst der Sprachen fremder
Völker in ihre Literatur einzudringen, um sich den Quellpunkten
ihres geistigen Lebens zu nähern. Er empfindet die centralen
Aeußerungen des Lebens dieser Völker als ein Fremdes. Ihm
liegt ihre wirkliche Kultur an den Grenzen dessen, was seine ge-
schichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit ausmacht. Andrerseits bauten

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
ſchritt der Naturwiſſenſchaften ſich entwickelt hat; dieſe Entwicklung
ſteht unter eigenen Bedingungen, in Betreff deren auf das erſte
Buch zurückverwieſen wird. Und dieſelben beſtimmen nun zunächſt
das Verhältniß, in welchem die griechiſche Metaphyſik zu dem
Studium der geiſtigen Thatſachen ſteht.

Der Erfahrungskreis der geſellſchaftlich-geſchichtlichen Wirklichkeit
hat ſich in den Generationen ſelber erſt aufgebaut, welche über
ihn reflektirten. Die Natur ſtand der Schule von Milet ſo gut
als ein abgeſchloſſenes Ganze gegenüber, wie einem heutigen
Forſcher: es galt nur, die vorhandene zu erkennen. Dagegen ent-
ſtand erſt zu der Zeit, in welcher die griechiſche Wiſſenſchaft auftrat,
allmählich der umfaſſendere geſchichtlich-geſellſchaftliche Erfahrungs-
kreis, welcher der Gegenſtand der Geiſteswiſſenſchaften iſt. Die
Zuſtände der umliegenden, uralten Kulturſtaaten waren den grie-
chiſchen Stämmen zu wenig bekannt und zu fremdartig, als daß ſie
Gegenſtand einer wirklich fruchtbaren Forſchung hätten werden
können. Und zwar ſtoßen wir hier wieder an eine Grenze des
griechiſchen Geiſtes, welche in dem tiefſten Lebensgefühl des grie-
chiſchen Menſchen begründet iſt. Ein energiſches Intereſſe der
Auffaſſung zeigt der Grieche nur für den Griechen und in zweiter
Linie für den verwandten Italiker. Wol beweiſt der Sagenkreis, der
das Haupt des Solon als des großen Repräſentanten maßvoller
griechiſcher Lebens- und Staatskunſt umgiebt, den lebendigen An-
theil an den großen Kataſtrophen jener Kulturländer. Die Ge-
ſchichtſchreibung des Herodot macht die regſame Neubegier grie-
chiſcher Forſcher ſichtbar in Bezug auf fremde Länder und Völker.
Die Kyropädie erweiſt, wie die Leiſtungsfähigkeit monarchiſcher
Einrichtungen die Bürger dieſer freien, aber politiſch und militäriſch
unzureichend geſchützten Stadtſtaaten beſchäftigte. Aber der griechiſche
Forſcher zeigt kein Bedürfniß, vermittelſt der Sprachen fremder
Völker in ihre Literatur einzudringen, um ſich den Quellpunkten
ihres geiſtigen Lebens zu nähern. Er empfindet die centralen
Aeußerungen des Lebens dieſer Völker als ein Fremdes. Ihm
liegt ihre wirkliche Kultur an den Grenzen deſſen, was ſeine ge-
ſchichtlich-geſellſchaftliche Wirklichkeit ausmacht. Andrerſeits bauten

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[272/0295] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. ſchritt der Naturwiſſenſchaften ſich entwickelt hat; dieſe Entwicklung ſteht unter eigenen Bedingungen, in Betreff deren auf das erſte Buch zurückverwieſen wird. Und dieſelben beſtimmen nun zunächſt das Verhältniß, in welchem die griechiſche Metaphyſik zu dem Studium der geiſtigen Thatſachen ſteht. Der Erfahrungskreis der geſellſchaftlich-geſchichtlichen Wirklichkeit hat ſich in den Generationen ſelber erſt aufgebaut, welche über ihn reflektirten. Die Natur ſtand der Schule von Milet ſo gut als ein abgeſchloſſenes Ganze gegenüber, wie einem heutigen Forſcher: es galt nur, die vorhandene zu erkennen. Dagegen ent- ſtand erſt zu der Zeit, in welcher die griechiſche Wiſſenſchaft auftrat, allmählich der umfaſſendere geſchichtlich-geſellſchaftliche Erfahrungs- kreis, welcher der Gegenſtand der Geiſteswiſſenſchaften iſt. Die Zuſtände der umliegenden, uralten Kulturſtaaten waren den grie- chiſchen Stämmen zu wenig bekannt und zu fremdartig, als daß ſie Gegenſtand einer wirklich fruchtbaren Forſchung hätten werden können. Und zwar ſtoßen wir hier wieder an eine Grenze des griechiſchen Geiſtes, welche in dem tiefſten Lebensgefühl des grie- chiſchen Menſchen begründet iſt. Ein energiſches Intereſſe der Auffaſſung zeigt der Grieche nur für den Griechen und in zweiter Linie für den verwandten Italiker. Wol beweiſt der Sagenkreis, der das Haupt des Solon als des großen Repräſentanten maßvoller griechiſcher Lebens- und Staatskunſt umgiebt, den lebendigen An- theil an den großen Kataſtrophen jener Kulturländer. Die Ge- ſchichtſchreibung des Herodot macht die regſame Neubegier grie- chiſcher Forſcher ſichtbar in Bezug auf fremde Länder und Völker. Die Kyropädie erweiſt, wie die Leiſtungsfähigkeit monarchiſcher Einrichtungen die Bürger dieſer freien, aber politiſch und militäriſch unzureichend geſchützten Stadtſtaaten beſchäftigte. Aber der griechiſche Forſcher zeigt kein Bedürfniß, vermittelſt der Sprachen fremder Völker in ihre Literatur einzudringen, um ſich den Quellpunkten ihres geiſtigen Lebens zu nähern. Er empfindet die centralen Aeußerungen des Lebens dieſer Völker als ein Fremdes. Ihm liegt ihre wirkliche Kultur an den Grenzen deſſen, was ſeine ge- ſchichtlich-geſellſchaftliche Wirklichkeit ausmacht. Andrerſeits bauten

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 272. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/295>, abgerufen am 23.11.2024.