Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

Bild:
<< vorherige Seite

Schranken des griechischen Studiums der Gesellschaft.
sich die Kultur seines eigenen Volkes und dessen politisches
Leben, soweit sie Gegenstand geschichtlichen Wissens sind, in der
Zeit, in welcher die griechische Wissenschaft anhebt, erst allmählich
auf. Sonach war die geschichtlich-gesellschaftliche Welt, wie sie
das Menschengeschlecht und dessen Gliederung umfaßt, für den
griechischen Geist noch unter dem Horizonte.

Mit dieser engen Begrenzung finden wir einen positiven Irrthum
verbunden, der aus derselben entsprang. Die griechischen Theorien
empfingen ihre vollendete Gestalt zu einer Zeit, in welcher gerade die
höchststehenden Politien rein griechischer Abkunft schon ihren Höhe-
punkt überschritten hatten. Welche Achtung auch noch Plato für
das Staatsleben der Spartaner hatte und wie große Hoffnungen
er an eine Konstitution noch knüpfen mochte, welche die gespannte
einheitliche Kraft dieser Staatsordnung in edlerer Richtung
nachbildete: für Aristoteles gab es kein Beispiel eines ächt grie-
chischen Staates mehr, der dem Schicksal des Sinkens entnommen
gewesen wäre. So entsteht an der Erfahrung selber die Vor-
stellung von einem Kreislauf der menschlichen Dinge, der gesell-
schaftlichen wie der politischen Zustände, oder die noch mehr
düstere von ihrem allmählichen Sinken. Und diese völlige Ab-
wesenheit jeder Vorstellung von Fortschreiten und Entwicklung
verbindet sich mit der dargelegten Einschränkung des untersuchen-
den Geistes auf den griechischen Menschen. Der griechische Er-
forscher der gesellschaftlichen und historischen Wirklichkeit hatte so
noch kein geschichtliches Bewußtsein von einer inneren fort-
schreitenden Entwicklung, und er näherte sich der Empfindung
seines realen Zusammenhangs mit dem ganzen Menschengeschlecht
nur spät und allmählich durch die Vermittelung des macedonischen
Reiches und des römischen Imperium sowie durch die Einwirkung
des Orients.

Dieser Schranke des griechischen Geistes, welche sich auf den
Umfang seines geschichtlichen Gesichtskreises bezieht, entspricht eine
andere, welche die Stellung der Person zu der Gesellschaft betrifft.
Und auch diese Grenze ist im innersten Seelenleben des grie-
chischen Menschen angelegt. Die Hingabe an das Gedankenmäßige

Dilthey, Einleitung. 18

Schranken des griechiſchen Studiums der Geſellſchaft.
ſich die Kultur ſeines eigenen Volkes und deſſen politiſches
Leben, ſoweit ſie Gegenſtand geſchichtlichen Wiſſens ſind, in der
Zeit, in welcher die griechiſche Wiſſenſchaft anhebt, erſt allmählich
auf. Sonach war die geſchichtlich-geſellſchaftliche Welt, wie ſie
das Menſchengeſchlecht und deſſen Gliederung umfaßt, für den
griechiſchen Geiſt noch unter dem Horizonte.

Mit dieſer engen Begrenzung finden wir einen poſitiven Irrthum
verbunden, der aus derſelben entſprang. Die griechiſchen Theorien
empfingen ihre vollendete Geſtalt zu einer Zeit, in welcher gerade die
höchſtſtehenden Politien rein griechiſcher Abkunft ſchon ihren Höhe-
punkt überſchritten hatten. Welche Achtung auch noch Plato für
das Staatsleben der Spartaner hatte und wie große Hoffnungen
er an eine Konſtitution noch knüpfen mochte, welche die geſpannte
einheitliche Kraft dieſer Staatsordnung in edlerer Richtung
nachbildete: für Ariſtoteles gab es kein Beiſpiel eines ächt grie-
chiſchen Staates mehr, der dem Schickſal des Sinkens entnommen
geweſen wäre. So entſteht an der Erfahrung ſelber die Vor-
ſtellung von einem Kreislauf der menſchlichen Dinge, der geſell-
ſchaftlichen wie der politiſchen Zuſtände, oder die noch mehr
düſtere von ihrem allmählichen Sinken. Und dieſe völlige Ab-
weſenheit jeder Vorſtellung von Fortſchreiten und Entwicklung
verbindet ſich mit der dargelegten Einſchränkung des unterſuchen-
den Geiſtes auf den griechiſchen Menſchen. Der griechiſche Er-
forſcher der geſellſchaftlichen und hiſtoriſchen Wirklichkeit hatte ſo
noch kein geſchichtliches Bewußtſein von einer inneren fort-
ſchreitenden Entwicklung, und er näherte ſich der Empfindung
ſeines realen Zuſammenhangs mit dem ganzen Menſchengeſchlecht
nur ſpät und allmählich durch die Vermittelung des macedoniſchen
Reiches und des römiſchen Imperium ſowie durch die Einwirkung
des Orients.

Dieſer Schranke des griechiſchen Geiſtes, welche ſich auf den
Umfang ſeines geſchichtlichen Geſichtskreiſes bezieht, entſpricht eine
andere, welche die Stellung der Perſon zu der Geſellſchaft betrifft.
Und auch dieſe Grenze iſt im innerſten Seelenleben des grie-
chiſchen Menſchen angelegt. Die Hingabe an das Gedankenmäßige

Dilthey, Einleitung. 18
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0296" n="273"/><fw place="top" type="header">Schranken des griechi&#x017F;chen Studiums der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft.</fw><lb/>
&#x017F;ich die Kultur &#x017F;eines eigenen Volkes und de&#x017F;&#x017F;en politi&#x017F;ches<lb/>
Leben, &#x017F;oweit &#x017F;ie Gegen&#x017F;tand ge&#x017F;chichtlichen Wi&#x017F;&#x017F;ens &#x017F;ind, in der<lb/>
Zeit, in welcher die griechi&#x017F;che Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft anhebt, er&#x017F;t allmählich<lb/>
auf. Sonach war die ge&#x017F;chichtlich-ge&#x017F;ell&#x017F;chaftliche Welt, wie &#x017F;ie<lb/>
das Men&#x017F;chenge&#x017F;chlecht und de&#x017F;&#x017F;en Gliederung umfaßt, für den<lb/>
griechi&#x017F;chen Gei&#x017F;t noch unter dem Horizonte.</p><lb/>
            <p>Mit die&#x017F;er engen Begrenzung finden wir einen po&#x017F;itiven Irrthum<lb/>
verbunden, der aus der&#x017F;elben ent&#x017F;prang. Die griechi&#x017F;chen Theorien<lb/>
empfingen ihre vollendete Ge&#x017F;talt zu einer Zeit, in welcher gerade die<lb/>
höch&#x017F;t&#x017F;tehenden Politien rein griechi&#x017F;cher Abkunft &#x017F;chon ihren Höhe-<lb/>
punkt über&#x017F;chritten hatten. Welche Achtung auch noch Plato für<lb/>
das Staatsleben der Spartaner hatte und wie große Hoffnungen<lb/>
er an eine Kon&#x017F;titution noch knüpfen mochte, welche die ge&#x017F;pannte<lb/>
einheitliche Kraft die&#x017F;er Staatsordnung in edlerer Richtung<lb/>
nachbildete: für Ari&#x017F;toteles gab es kein Bei&#x017F;piel eines ächt grie-<lb/>
chi&#x017F;chen Staates mehr, der dem Schick&#x017F;al des Sinkens entnommen<lb/>
gewe&#x017F;en wäre. So ent&#x017F;teht an der Erfahrung &#x017F;elber die Vor-<lb/>
&#x017F;tellung von einem Kreislauf der men&#x017F;chlichen Dinge, der ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaftlichen wie der politi&#x017F;chen Zu&#x017F;tände, oder die noch mehr<lb/>&#x017F;tere von ihrem allmählichen Sinken. Und die&#x017F;e völlige Ab-<lb/>
we&#x017F;enheit jeder Vor&#x017F;tellung von Fort&#x017F;chreiten und Entwicklung<lb/>
verbindet &#x017F;ich mit der dargelegten Ein&#x017F;chränkung des unter&#x017F;uchen-<lb/>
den Gei&#x017F;tes auf den griechi&#x017F;chen Men&#x017F;chen. Der griechi&#x017F;che Er-<lb/>
for&#x017F;cher der ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen und hi&#x017F;tori&#x017F;chen Wirklichkeit hatte &#x017F;o<lb/>
noch kein ge&#x017F;chichtliches Bewußt&#x017F;ein von einer inneren fort-<lb/>
&#x017F;chreitenden Entwicklung, und er näherte &#x017F;ich der Empfindung<lb/>
&#x017F;eines realen Zu&#x017F;ammenhangs mit dem ganzen Men&#x017F;chenge&#x017F;chlecht<lb/>
nur &#x017F;pät und allmählich durch die Vermittelung des macedoni&#x017F;chen<lb/>
Reiches und des römi&#x017F;chen Imperium &#x017F;owie durch die Einwirkung<lb/>
des Orients.</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;er Schranke des griechi&#x017F;chen Gei&#x017F;tes, welche &#x017F;ich auf den<lb/>
Umfang &#x017F;eines ge&#x017F;chichtlichen Ge&#x017F;ichtskrei&#x017F;es bezieht, ent&#x017F;pricht eine<lb/>
andere, welche die Stellung der Per&#x017F;on zu der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft betrifft.<lb/>
Und auch die&#x017F;e Grenze i&#x017F;t im inner&#x017F;ten Seelenleben des grie-<lb/>
chi&#x017F;chen Men&#x017F;chen angelegt. Die Hingabe an das Gedankenmäßige<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Dilthey</hi>, Einleitung. 18</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[273/0296] Schranken des griechiſchen Studiums der Geſellſchaft. ſich die Kultur ſeines eigenen Volkes und deſſen politiſches Leben, ſoweit ſie Gegenſtand geſchichtlichen Wiſſens ſind, in der Zeit, in welcher die griechiſche Wiſſenſchaft anhebt, erſt allmählich auf. Sonach war die geſchichtlich-geſellſchaftliche Welt, wie ſie das Menſchengeſchlecht und deſſen Gliederung umfaßt, für den griechiſchen Geiſt noch unter dem Horizonte. Mit dieſer engen Begrenzung finden wir einen poſitiven Irrthum verbunden, der aus derſelben entſprang. Die griechiſchen Theorien empfingen ihre vollendete Geſtalt zu einer Zeit, in welcher gerade die höchſtſtehenden Politien rein griechiſcher Abkunft ſchon ihren Höhe- punkt überſchritten hatten. Welche Achtung auch noch Plato für das Staatsleben der Spartaner hatte und wie große Hoffnungen er an eine Konſtitution noch knüpfen mochte, welche die geſpannte einheitliche Kraft dieſer Staatsordnung in edlerer Richtung nachbildete: für Ariſtoteles gab es kein Beiſpiel eines ächt grie- chiſchen Staates mehr, der dem Schickſal des Sinkens entnommen geweſen wäre. So entſteht an der Erfahrung ſelber die Vor- ſtellung von einem Kreislauf der menſchlichen Dinge, der geſell- ſchaftlichen wie der politiſchen Zuſtände, oder die noch mehr düſtere von ihrem allmählichen Sinken. Und dieſe völlige Ab- weſenheit jeder Vorſtellung von Fortſchreiten und Entwicklung verbindet ſich mit der dargelegten Einſchränkung des unterſuchen- den Geiſtes auf den griechiſchen Menſchen. Der griechiſche Er- forſcher der geſellſchaftlichen und hiſtoriſchen Wirklichkeit hatte ſo noch kein geſchichtliches Bewußtſein von einer inneren fort- ſchreitenden Entwicklung, und er näherte ſich der Empfindung ſeines realen Zuſammenhangs mit dem ganzen Menſchengeſchlecht nur ſpät und allmählich durch die Vermittelung des macedoniſchen Reiches und des römiſchen Imperium ſowie durch die Einwirkung des Orients. Dieſer Schranke des griechiſchen Geiſtes, welche ſich auf den Umfang ſeines geſchichtlichen Geſichtskreiſes bezieht, entſpricht eine andere, welche die Stellung der Perſon zu der Geſellſchaft betrifft. Und auch dieſe Grenze iſt im innerſten Seelenleben des grie- chiſchen Menſchen angelegt. Die Hingabe an das Gedankenmäßige Dilthey, Einleitung. 18

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Darüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/296
Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 273. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/296>, abgerufen am 23.11.2024.