Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Zweites Buch. Zweiter Abschnitt. der Welt ist mit einem Mangel an Vertiefung in die Geheimnissedes Seelenlebens, an Erfassung der freien Person im Gegensatz zu Allem, was Natur ist, verbunden. Erst in einer späteren Zeit wird der Wille, welcher sich als Selbstzweck von unendlichem Werthe findet, wenn er zur metaphysischen Besinnung kommt, die Stellung des Menschen zu der Natur und zu der Gesellschaft ab- ändern. Aber für den damaligen griechischen Menschen hat der Einzelwille noch nicht um seiner selbst willen den Anspruch auf eine Sphäre seiner Herrschaft, welche ihm der Staat zu schützen bestimmt ist und nicht rauben darf. Das Recht hat noch nicht die Aufgabe, dem Individuum diese Sphäre seiner Freiheit zu sichern, innerhalb deren es schalte. Die Freiheit hat noch nicht die Bedeutung ungehemmter Entfaltung und Bewegung des Willens innerhalb dieser Sphäre. Vielmehr ist der Staat ein Herrschafts- verhältniß, und die Freiheit besteht in dem Antheil an dieser Herr- schaft. Die griechische Seele bedarf noch nicht einer Sphäre ihres Lebens, welche jenseit aller gesellschaftlichen Ordnung liegt. Skla- verei, Tödtung verkrüppelter oder schwächlicher Neugeborener, Ostracismus bezeichnen diese unvollkommene Werthschätzung des Menschen. Der unablässige Kampf um den Antheil an der politischen Herrschaft bezeichnet die Wirkung derselben auf die Gesellschaft. Innerhalb dieser Grenzen durchlief die Anschauung der Völker In dem ersten dieser Stadien, während der Herrschaft Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. der Welt iſt mit einem Mangel an Vertiefung in die Geheimniſſedes Seelenlebens, an Erfaſſung der freien Perſon im Gegenſatz zu Allem, was Natur iſt, verbunden. Erſt in einer ſpäteren Zeit wird der Wille, welcher ſich als Selbſtzweck von unendlichem Werthe findet, wenn er zur metaphyſiſchen Beſinnung kommt, die Stellung des Menſchen zu der Natur und zu der Geſellſchaft ab- ändern. Aber für den damaligen griechiſchen Menſchen hat der Einzelwille noch nicht um ſeiner ſelbſt willen den Anſpruch auf eine Sphäre ſeiner Herrſchaft, welche ihm der Staat zu ſchützen beſtimmt iſt und nicht rauben darf. Das Recht hat noch nicht die Aufgabe, dem Individuum dieſe Sphäre ſeiner Freiheit zu ſichern, innerhalb deren es ſchalte. Die Freiheit hat noch nicht die Bedeutung ungehemmter Entfaltung und Bewegung des Willens innerhalb dieſer Sphäre. Vielmehr iſt der Staat ein Herrſchafts- verhältniß, und die Freiheit beſteht in dem Antheil an dieſer Herr- ſchaft. Die griechiſche Seele bedarf noch nicht einer Sphäre ihres Lebens, welche jenſeit aller geſellſchaftlichen Ordnung liegt. Skla- verei, Tödtung verkrüppelter oder ſchwächlicher Neugeborener, Oſtracismus bezeichnen dieſe unvollkommene Werthſchätzung des Menſchen. Der unabläſſige Kampf um den Antheil an der politiſchen Herrſchaft bezeichnet die Wirkung derſelben auf die Geſellſchaft. Innerhalb dieſer Grenzen durchlief die Anſchauung der Völker In dem erſten dieſer Stadien, während der Herrſchaft <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0297" n="274"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.</fw><lb/> der Welt iſt mit einem Mangel an Vertiefung in die Geheimniſſe<lb/> des Seelenlebens, an Erfaſſung der freien Perſon im Gegenſatz<lb/> zu Allem, was Natur iſt, verbunden. Erſt in einer ſpäteren Zeit<lb/> wird der Wille, welcher ſich als Selbſtzweck von unendlichem<lb/> Werthe findet, wenn er zur metaphyſiſchen Beſinnung kommt, die<lb/> Stellung des Menſchen zu der Natur und zu der Geſellſchaft ab-<lb/> ändern. 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Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
der Welt iſt mit einem Mangel an Vertiefung in die Geheimniſſe
des Seelenlebens, an Erfaſſung der freien Perſon im Gegenſatz
zu Allem, was Natur iſt, verbunden. Erſt in einer ſpäteren Zeit
wird der Wille, welcher ſich als Selbſtzweck von unendlichem
Werthe findet, wenn er zur metaphyſiſchen Beſinnung kommt, die
Stellung des Menſchen zu der Natur und zu der Geſellſchaft ab-
ändern. Aber für den damaligen griechiſchen Menſchen hat der
Einzelwille noch nicht um ſeiner ſelbſt willen den Anſpruch auf
eine Sphäre ſeiner Herrſchaft, welche ihm der Staat zu ſchützen
beſtimmt iſt und nicht rauben darf. Das Recht hat noch nicht
die Aufgabe, dem Individuum dieſe Sphäre ſeiner Freiheit zu
ſichern, innerhalb deren es ſchalte. Die Freiheit hat noch nicht
die Bedeutung ungehemmter Entfaltung und Bewegung des Willens
innerhalb dieſer Sphäre. Vielmehr iſt der Staat ein Herrſchafts-
verhältniß, und die Freiheit beſteht in dem Antheil an dieſer Herr-
ſchaft. Die griechiſche Seele bedarf noch nicht einer Sphäre ihres
Lebens, welche jenſeit aller geſellſchaftlichen Ordnung liegt. Skla-
verei, Tödtung verkrüppelter oder ſchwächlicher Neugeborener,
Oſtracismus bezeichnen dieſe unvollkommene Werthſchätzung des
Menſchen. Der unabläſſige Kampf um den Antheil an der
politiſchen Herrſchaft bezeichnet die Wirkung derſelben auf die
Geſellſchaft.
Innerhalb dieſer Grenzen durchlief die Anſchauung der Völker
des Mittelmeeres über die geſellſchaftlich-geſchichtliche Wirklichkeit
dieſelben Stadien, welche in größerem Maßſtab, modificirt durch
die veränderten Umſtände, auch die Anſchauung der neueren Völker
durchmeſſen hat.
In dem erſten dieſer Stadien, während der Herrſchaft
des mythiſchen Vorſtellens, wird die Ordnung der
Geſellſchaft auf göttliche Stiftung zurückgeführt. Dieſe
Vorſtellung des Urſprungs der geſellſchaftlichen Ordnung theilen die
Griechen mit den umliegenden großen aſiatiſchen Staaten, wie
verſchieden auch die näheren Beſtimmungen der Vorſtellung bei den
Griechen von der bei den Orientalen ſind. Sie bleibt ſo lange
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