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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Stadium d. Zurückführung d. gesellschaftl. Ordnung auf göttl. Stiftung.
herrschend, als die heroische Zeit dauert. Alle Macht war in
dieser Zeit persönlich. Der heroische König hatte kein physisches
Machtmittel, den Gehorsam eines ewig widersprechenden Adels zu
erzwingen; es gab keine geschriebene Verfassung, die einen Rechts-
anspruch begründet hätte. So sind alle Vorstellungen und Ge-
fühle jener Tage in das Element des Persönlichen getaucht. Die
Poesie war Heldengesang; das Heroische der Gegenwart an ein
Höheres der Vergangenheit zu knüpfen und dieses bis zu den
persönlichen Gewalten der Götter zurückzuleiten, in den Bildern
des Götterstaates die Motive des eigenen Lebens in mächtigerem
Pulsschlag zu empfinden und zu genießen: war ein Grundzug der
sozialen Gefühle und Vorstellungen jener Tage.

Die Vorstellung von dem Zusammenhang der gesellschaftlichen
Ordnung mit den persönlichen Kräften einer höheren Welt ist dann
ein lebendiger Bestandtheil griechischer Ueberzeugungen geblieben 1).
Centralgriechenland, nördlich wie durch breite Querriegel des Ge-
birges vom Kontinent isolirt, gliedert sich durch die Verästelung
der Gebirge zu einer Anzahl von Kantonen, die von Bergen mit
hohen und engen Zugängen in ihrer Selbständigkeit geschützt
sind: zugleich öffnet es sich dem Meere, das schützt und verbindet.
Ueber die milde See leiten Inseln, den Pfeilern einer Brücke
gleich. In vielen dieser Kantone erhielt sich lange mit zäher Ge-
walt die Macht der mythischen Vorstellungen. Denn die Wurzeln
des mythischen Glaubens lagen für diese abgeschlossenen Gemein-
schaften in den lokalen Kulten, wie aus dem späten Bericht des
Pausanias noch ersehen werden kann.

Dieselben geographischen Bedingungen haben zugleich auf die
Entwicklung kleiner Politien hingewirkt, in denen mit regsamer
intellektueller Entwicklung verbunden politische Freiheit sich ent-
faltete. Daher fand die politische Freiheit in den Schriften der

1) Die fortdauernde Macht dieser Vorstellungen kann, neben dem Be-
weis aus den bekannten Stellen, auch daraus erschlossen werden, daß die
sophistische Aufklärung die Religion als eine Erfindung der Staatskunst
auffassen konnte (Critias bei Sextus Empiricus adv. Math. IX, 54, Plato
Gesetze X, 889 e).
18*

Stadium d. Zurückführung d. geſellſchaftl. Ordnung auf göttl. Stiftung.
herrſchend, als die heroiſche Zeit dauert. Alle Macht war in
dieſer Zeit perſönlich. Der heroiſche König hatte kein phyſiſches
Machtmittel, den Gehorſam eines ewig widerſprechenden Adels zu
erzwingen; es gab keine geſchriebene Verfaſſung, die einen Rechts-
anſpruch begründet hätte. So ſind alle Vorſtellungen und Ge-
fühle jener Tage in das Element des Perſönlichen getaucht. Die
Poeſie war Heldengeſang; das Heroiſche der Gegenwart an ein
Höheres der Vergangenheit zu knüpfen und dieſes bis zu den
perſönlichen Gewalten der Götter zurückzuleiten, in den Bildern
des Götterſtaates die Motive des eigenen Lebens in mächtigerem
Pulsſchlag zu empfinden und zu genießen: war ein Grundzug der
ſozialen Gefühle und Vorſtellungen jener Tage.

Die Vorſtellung von dem Zuſammenhang der geſellſchaftlichen
Ordnung mit den perſönlichen Kräften einer höheren Welt iſt dann
ein lebendiger Beſtandtheil griechiſcher Ueberzeugungen geblieben 1).
Centralgriechenland, nördlich wie durch breite Querriegel des Ge-
birges vom Kontinent iſolirt, gliedert ſich durch die Veräſtelung
der Gebirge zu einer Anzahl von Kantonen, die von Bergen mit
hohen und engen Zugängen in ihrer Selbſtändigkeit geſchützt
ſind: zugleich öffnet es ſich dem Meere, das ſchützt und verbindet.
Ueber die milde See leiten Inſeln, den Pfeilern einer Brücke
gleich. In vielen dieſer Kantone erhielt ſich lange mit zäher Ge-
walt die Macht der mythiſchen Vorſtellungen. Denn die Wurzeln
des mythiſchen Glaubens lagen für dieſe abgeſchloſſenen Gemein-
ſchaften in den lokalen Kulten, wie aus dem ſpäten Bericht des
Pauſanias noch erſehen werden kann.

Dieſelben geographiſchen Bedingungen haben zugleich auf die
Entwicklung kleiner Politien hingewirkt, in denen mit regſamer
intellektueller Entwicklung verbunden politiſche Freiheit ſich ent-
faltete. Daher fand die politiſche Freiheit in den Schriften der

1) Die fortdauernde Macht dieſer Vorſtellungen kann, neben dem Be-
weis aus den bekannten Stellen, auch daraus erſchloſſen werden, daß die
ſophiſtiſche Aufklärung die Religion als eine Erfindung der Staatskunſt
auffaſſen konnte (Critias bei Sextus Empiricus adv. Math. IX, 54, Plato
Geſetze X, 889 e).
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[275/0298] Stadium d. Zurückführung d. geſellſchaftl. Ordnung auf göttl. Stiftung. herrſchend, als die heroiſche Zeit dauert. Alle Macht war in dieſer Zeit perſönlich. Der heroiſche König hatte kein phyſiſches Machtmittel, den Gehorſam eines ewig widerſprechenden Adels zu erzwingen; es gab keine geſchriebene Verfaſſung, die einen Rechts- anſpruch begründet hätte. So ſind alle Vorſtellungen und Ge- fühle jener Tage in das Element des Perſönlichen getaucht. Die Poeſie war Heldengeſang; das Heroiſche der Gegenwart an ein Höheres der Vergangenheit zu knüpfen und dieſes bis zu den perſönlichen Gewalten der Götter zurückzuleiten, in den Bildern des Götterſtaates die Motive des eigenen Lebens in mächtigerem Pulsſchlag zu empfinden und zu genießen: war ein Grundzug der ſozialen Gefühle und Vorſtellungen jener Tage. Die Vorſtellung von dem Zuſammenhang der geſellſchaftlichen Ordnung mit den perſönlichen Kräften einer höheren Welt iſt dann ein lebendiger Beſtandtheil griechiſcher Ueberzeugungen geblieben 1). Centralgriechenland, nördlich wie durch breite Querriegel des Ge- birges vom Kontinent iſolirt, gliedert ſich durch die Veräſtelung der Gebirge zu einer Anzahl von Kantonen, die von Bergen mit hohen und engen Zugängen in ihrer Selbſtändigkeit geſchützt ſind: zugleich öffnet es ſich dem Meere, das ſchützt und verbindet. Ueber die milde See leiten Inſeln, den Pfeilern einer Brücke gleich. In vielen dieſer Kantone erhielt ſich lange mit zäher Ge- walt die Macht der mythiſchen Vorſtellungen. Denn die Wurzeln des mythiſchen Glaubens lagen für dieſe abgeſchloſſenen Gemein- ſchaften in den lokalen Kulten, wie aus dem ſpäten Bericht des Pauſanias noch erſehen werden kann. Dieſelben geographiſchen Bedingungen haben zugleich auf die Entwicklung kleiner Politien hingewirkt, in denen mit regſamer intellektueller Entwicklung verbunden politiſche Freiheit ſich ent- faltete. Daher fand die politiſche Freiheit in den Schriften der 1) Die fortdauernde Macht dieſer Vorſtellungen kann, neben dem Be- weis aus den bekannten Stellen, auch daraus erſchloſſen werden, daß die ſophiſtiſche Aufklärung die Religion als eine Erfindung der Staatskunſt auffaſſen konnte (Critias bei Sextus Empiricus adv. Math. IX, 54, Plato Geſetze X, 889 e). 18*

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 275. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/298>, abgerufen am 22.11.2024.