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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Das Naturrecht der Sophisten.
so tief die Mythen einer vergangenen Zeit, weil sie noch die diesen
zu Grunde liegenden Verhältnisse und Gefühle nachempfand. Nun
wurde eine individualistische Richtung in den Interessen, den Ge-
fühlen wie den Vorstellungen herrschend. Athen ward der Mittel-
punkt dieser Veränderung der sozialen Gefühle. Die so eintretende
Umwälzung wurde allerdings mächtig befördert durch die Centrali-
sation der intellektuellen Bewegung in dieser Stadt und den in
ihr um sich greifenden skeptischen Geist. Anaxagoras schuf in Athen
eine herrschende Macht intellektueller Aufklärung im fünften Jahr-
hundert; es darf angenommen werden, daß dann Zeno dort er-
schien und durch seine skeptische Geistesrichtung Einfluß gewann; das
Auftreten des Protagoras sowie des Gorgias beförderte weiter den-
selben Geist skeptischer Aufklärung in der Stadt. Waren die Sophisten
auch nicht die Urheber der Umwälzung, welche sich im Leben und
Denken der griechischen Gesellschaft jener Tage vollzog: dieselbe
ward doch außerordentlich unterstützt, als, dem Bedürfniß einer
Zeit entsprechend, in welcher die Rede zum mächtigsten Mittel
geworden war, Einfluß und Reichthum zu erringen, dieser neue
Stand von Vertretern eines höheren Unterrichts die athenische
Jugend an sich zog. Ein Ideal von persönlicher Ausbildung ent-
stand, in dessen Sinne später ein Cicero im Redner das Lebens-
ideal eines römischen Mannes sah: der Humanismus hat in der
Folgezeit nicht nur die Kultur der Alten, sondern auch dies ihr
Bildungsideal erneuert und dadurch die unselige Vorherrschaft
einer formalen Bildung unter uns herbeigeführt. In der Lehr-
thätigkeit der Sophisten ist von diesem Allen die Wurzel; von ihr
ging der Geist der Rhetorenschulen aus, die sich über die alte Welt
verbreiteten. Vergeblich haben Plato und Aristoteles im Kampfe
gegen die Sophisten, im Gegensatz zu dem armseligen Rhetor Iso-
crates diese Krankheit des griechischen Lebens bekämpft; vergeblich,
weil die Sophisten nur in dem Privatunterrichtssystem der griechi-
schen Politien, in welchem die Schule der freien Konkurrenz anheim-
fiel, gerade das geboten haben, was den herrschenden Neigungen
entsprach. Ein Privatunterrichtssystem kann eben nie besser sein als
der Durchschnittsgeist einer Zeit. So floß denn nun in unzähligen

Das Naturrecht der Sophiſten.
ſo tief die Mythen einer vergangenen Zeit, weil ſie noch die dieſen
zu Grunde liegenden Verhältniſſe und Gefühle nachempfand. Nun
wurde eine individualiſtiſche Richtung in den Intereſſen, den Ge-
fühlen wie den Vorſtellungen herrſchend. Athen ward der Mittel-
punkt dieſer Veränderung der ſozialen Gefühle. Die ſo eintretende
Umwälzung wurde allerdings mächtig befördert durch die Centrali-
ſation der intellektuellen Bewegung in dieſer Stadt und den in
ihr um ſich greifenden ſkeptiſchen Geiſt. Anaxagoras ſchuf in Athen
eine herrſchende Macht intellektueller Aufklärung im fünften Jahr-
hundert; es darf angenommen werden, daß dann Zeno dort er-
ſchien und durch ſeine ſkeptiſche Geiſtesrichtung Einfluß gewann; das
Auftreten des Protagoras ſowie des Gorgias beförderte weiter den-
ſelben Geiſt ſkeptiſcher Aufklärung in der Stadt. Waren die Sophiſten
auch nicht die Urheber der Umwälzung, welche ſich im Leben und
Denken der griechiſchen Geſellſchaft jener Tage vollzog: dieſelbe
ward doch außerordentlich unterſtützt, als, dem Bedürfniß einer
Zeit entſprechend, in welcher die Rede zum mächtigſten Mittel
geworden war, Einfluß und Reichthum zu erringen, dieſer neue
Stand von Vertretern eines höheren Unterrichts die atheniſche
Jugend an ſich zog. Ein Ideal von perſönlicher Ausbildung ent-
ſtand, in deſſen Sinne ſpäter ein Cicero im Redner das Lebens-
ideal eines römiſchen Mannes ſah: der Humanismus hat in der
Folgezeit nicht nur die Kultur der Alten, ſondern auch dies ihr
Bildungsideal erneuert und dadurch die unſelige Vorherrſchaft
einer formalen Bildung unter uns herbeigeführt. In der Lehr-
thätigkeit der Sophiſten iſt von dieſem Allen die Wurzel; von ihr
ging der Geiſt der Rhetorenſchulen aus, die ſich über die alte Welt
verbreiteten. Vergeblich haben Plato und Ariſtoteles im Kampfe
gegen die Sophiſten, im Gegenſatz zu dem armſeligen Rhetor Iſo-
crates dieſe Krankheit des griechiſchen Lebens bekämpft; vergeblich,
weil die Sophiſten nur in dem Privatunterrichtsſyſtem der griechi-
ſchen Politien, in welchem die Schule der freien Konkurrenz anheim-
fiel, gerade das geboten haben, was den herrſchenden Neigungen
entſprach. Ein Privatunterrichtsſyſtem kann eben nie beſſer ſein als
der Durchſchnittsgeiſt einer Zeit. So floß denn nun in unzähligen

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[277/0300] Das Naturrecht der Sophiſten. ſo tief die Mythen einer vergangenen Zeit, weil ſie noch die dieſen zu Grunde liegenden Verhältniſſe und Gefühle nachempfand. Nun wurde eine individualiſtiſche Richtung in den Intereſſen, den Ge- fühlen wie den Vorſtellungen herrſchend. Athen ward der Mittel- punkt dieſer Veränderung der ſozialen Gefühle. Die ſo eintretende Umwälzung wurde allerdings mächtig befördert durch die Centrali- ſation der intellektuellen Bewegung in dieſer Stadt und den in ihr um ſich greifenden ſkeptiſchen Geiſt. Anaxagoras ſchuf in Athen eine herrſchende Macht intellektueller Aufklärung im fünften Jahr- hundert; es darf angenommen werden, daß dann Zeno dort er- ſchien und durch ſeine ſkeptiſche Geiſtesrichtung Einfluß gewann; das Auftreten des Protagoras ſowie des Gorgias beförderte weiter den- ſelben Geiſt ſkeptiſcher Aufklärung in der Stadt. Waren die Sophiſten auch nicht die Urheber der Umwälzung, welche ſich im Leben und Denken der griechiſchen Geſellſchaft jener Tage vollzog: dieſelbe ward doch außerordentlich unterſtützt, als, dem Bedürfniß einer Zeit entſprechend, in welcher die Rede zum mächtigſten Mittel geworden war, Einfluß und Reichthum zu erringen, dieſer neue Stand von Vertretern eines höheren Unterrichts die atheniſche Jugend an ſich zog. Ein Ideal von perſönlicher Ausbildung ent- ſtand, in deſſen Sinne ſpäter ein Cicero im Redner das Lebens- ideal eines römiſchen Mannes ſah: der Humanismus hat in der Folgezeit nicht nur die Kultur der Alten, ſondern auch dies ihr Bildungsideal erneuert und dadurch die unſelige Vorherrſchaft einer formalen Bildung unter uns herbeigeführt. In der Lehr- thätigkeit der Sophiſten iſt von dieſem Allen die Wurzel; von ihr ging der Geiſt der Rhetorenſchulen aus, die ſich über die alte Welt verbreiteten. Vergeblich haben Plato und Ariſtoteles im Kampfe gegen die Sophiſten, im Gegenſatz zu dem armſeligen Rhetor Iſo- crates dieſe Krankheit des griechiſchen Lebens bekämpft; vergeblich, weil die Sophiſten nur in dem Privatunterrichtsſyſtem der griechi- ſchen Politien, in welchem die Schule der freien Konkurrenz anheim- fiel, gerade das geboten haben, was den herrſchenden Neigungen entſprach. Ein Privatunterrichtsſyſtem kann eben nie beſſer ſein als der Durchſchnittsgeiſt einer Zeit. So floß denn nun in unzähligen

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/300>, abgerufen am 22.11.2024.