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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
Kanälen der individualistische und skeptische Geist, wie er sich seit
der Mitte des fünften Jahrhunderts entwickelt hatte, abwärts dem
Niveau der Massen entgegen, um sich dort zu vertheilen, ver-
mittelst der Volksversammlungen, der Theater, des neuen sophi-
stischen Unterrichts, zunächst in Athen und dann von diesem
Centrum aus über ganz Griechenland.

Jedoch zeigt die erste Generation der Sophisten noch
keine entschiedene und klare negative Stellung der bestehenden gesell-
schaftlichen Ordnung gegenüber. In dem Relativismus des Pro-
tagoras lagen die Prämissen einer solchen negativen Haltung. Auch
war Protagoras nicht der Kopf, ihre Tragweite zu übersehen 1).
Aber hätte er die Konsequenzen dieses Relativismus bereits wirk-
lich entwickelt, so wäre der Mythus, welchen Plato in seinem
Namen in dem nach ihm bezeichneten Dialog vortrug, unerklärlich.
Gorgias, ein Genie der Sprache, von einem weisen Verhältniß
zum Leben, eine neutrale und in Bezug auf die sittlichen und
gesellschaftlichen Probleme von keinem starken Affekt bewegte Vir-
tuosennatur, ließ die sittlichen Ideale des Lebens in ihrer mannig-
fachen Thatsächlichkeit bestehen 2); sie bildeten ihm die Voraus-
setzung seiner Technik, welche nur die Kraft und Kunst, Glauben
hervorzurufen, zum Gegenstand hatte.

Dennoch lag in der Bewegung, welche die Sophisten der
ersten Generation hervorriefen, der Ausgangspunkt einer negativen
Philosophie der Gesellschaft. Die ungeheure Wandlung der
geistigen Interessen, wie sie in diesem Zeitalter stattfand und das
große Werk der Sophisten ist, an die in dieser Rücksicht Socrates sich
anschloß, läßt nunmehr geistige Thatsachen, Sprache, Denken, Be-
redsamkeit, Staatsleben, Sittlichkeit als Gegenstand von wissen-
schaftlicher Forschung in den Vordergrund treten. An diesen
geistigen Thatsachen und ihrer Betrachtung ging erst im Gegen-
satz zu den materiellen Vorstellungen von Seele ein Bild dessen
auf, was im Geiste vollbracht wird. Dieselbe Wendung der intellek-

1) Vgl. Platos Theätet 167. 172 A. Protagoras 334.
2) Vgl. Arist. Polit. I, 13. 1260 a 24 mit Platos Meno.

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Kanälen der individualiſtiſche und ſkeptiſche Geiſt, wie er ſich ſeit
der Mitte des fünften Jahrhunderts entwickelt hatte, abwärts dem
Niveau der Maſſen entgegen, um ſich dort zu vertheilen, ver-
mittelſt der Volksverſammlungen, der Theater, des neuen ſophi-
ſtiſchen Unterrichts, zunächſt in Athen und dann von dieſem
Centrum aus über ganz Griechenland.

Jedoch zeigt die erſte Generation der Sophiſten noch
keine entſchiedene und klare negative Stellung der beſtehenden geſell-
ſchaftlichen Ordnung gegenüber. In dem Relativismus des Pro-
tagoras lagen die Prämiſſen einer ſolchen negativen Haltung. Auch
war Protagoras nicht der Kopf, ihre Tragweite zu überſehen 1).
Aber hätte er die Konſequenzen dieſes Relativismus bereits wirk-
lich entwickelt, ſo wäre der Mythus, welchen Plato in ſeinem
Namen in dem nach ihm bezeichneten Dialog vortrug, unerklärlich.
Gorgias, ein Genie der Sprache, von einem weiſen Verhältniß
zum Leben, eine neutrale und in Bezug auf die ſittlichen und
geſellſchaftlichen Probleme von keinem ſtarken Affekt bewegte Vir-
tuoſennatur, ließ die ſittlichen Ideale des Lebens in ihrer mannig-
fachen Thatſächlichkeit beſtehen 2); ſie bildeten ihm die Voraus-
ſetzung ſeiner Technik, welche nur die Kraft und Kunſt, Glauben
hervorzurufen, zum Gegenſtand hatte.

Dennoch lag in der Bewegung, welche die Sophiſten der
erſten Generation hervorriefen, der Ausgangspunkt einer negativen
Philoſophie der Geſellſchaft. Die ungeheure Wandlung der
geiſtigen Intereſſen, wie ſie in dieſem Zeitalter ſtattfand und das
große Werk der Sophiſten iſt, an die in dieſer Rückſicht Socrates ſich
anſchloß, läßt nunmehr geiſtige Thatſachen, Sprache, Denken, Be-
redſamkeit, Staatsleben, Sittlichkeit als Gegenſtand von wiſſen-
ſchaftlicher Forſchung in den Vordergrund treten. An dieſen
geiſtigen Thatſachen und ihrer Betrachtung ging erſt im Gegen-
ſatz zu den materiellen Vorſtellungen von Seele ein Bild deſſen
auf, was im Geiſte vollbracht wird. Dieſelbe Wendung der intellek-

1) Vgl. Platos Theätet 167. 172 A. Protagoras 334.
2) Vgl. Ariſt. Polit. I, 13. 1260 a 24 mit Platos Meno.
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[278/0301] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Kanälen der individualiſtiſche und ſkeptiſche Geiſt, wie er ſich ſeit der Mitte des fünften Jahrhunderts entwickelt hatte, abwärts dem Niveau der Maſſen entgegen, um ſich dort zu vertheilen, ver- mittelſt der Volksverſammlungen, der Theater, des neuen ſophi- ſtiſchen Unterrichts, zunächſt in Athen und dann von dieſem Centrum aus über ganz Griechenland. Jedoch zeigt die erſte Generation der Sophiſten noch keine entſchiedene und klare negative Stellung der beſtehenden geſell- ſchaftlichen Ordnung gegenüber. In dem Relativismus des Pro- tagoras lagen die Prämiſſen einer ſolchen negativen Haltung. Auch war Protagoras nicht der Kopf, ihre Tragweite zu überſehen 1). Aber hätte er die Konſequenzen dieſes Relativismus bereits wirk- lich entwickelt, ſo wäre der Mythus, welchen Plato in ſeinem Namen in dem nach ihm bezeichneten Dialog vortrug, unerklärlich. Gorgias, ein Genie der Sprache, von einem weiſen Verhältniß zum Leben, eine neutrale und in Bezug auf die ſittlichen und geſellſchaftlichen Probleme von keinem ſtarken Affekt bewegte Vir- tuoſennatur, ließ die ſittlichen Ideale des Lebens in ihrer mannig- fachen Thatſächlichkeit beſtehen 2); ſie bildeten ihm die Voraus- ſetzung ſeiner Technik, welche nur die Kraft und Kunſt, Glauben hervorzurufen, zum Gegenſtand hatte. Dennoch lag in der Bewegung, welche die Sophiſten der erſten Generation hervorriefen, der Ausgangspunkt einer negativen Philoſophie der Geſellſchaft. Die ungeheure Wandlung der geiſtigen Intereſſen, wie ſie in dieſem Zeitalter ſtattfand und das große Werk der Sophiſten iſt, an die in dieſer Rückſicht Socrates ſich anſchloß, läßt nunmehr geiſtige Thatſachen, Sprache, Denken, Be- redſamkeit, Staatsleben, Sittlichkeit als Gegenſtand von wiſſen- ſchaftlicher Forſchung in den Vordergrund treten. An dieſen geiſtigen Thatſachen und ihrer Betrachtung ging erſt im Gegen- ſatz zu den materiellen Vorſtellungen von Seele ein Bild deſſen auf, was im Geiſte vollbracht wird. Dieſelbe Wendung der intellek- 1) Vgl. Platos Theätet 167. 172 A. Protagoras 334. 2) Vgl. Ariſt. Polit. I, 13. 1260 a 24 mit Platos Meno.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/301>, abgerufen am 22.11.2024.