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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
Es entsteht eine metaphysische Kosmogonie der sittlichen und
gesellschaftlichen Ordnung. Die ganze metaphysische Maschinerie
dieses radikalen Naturrechts, wie sie uns in Hobbes und Spinoza
wieder begegnet, findet sich in dieser Kosmogonie der Gesellschaft
schon angewandt: der Kampf starker, den Thieren vergleichbarer
Individuen unter einander in einem gesetzlosen Leben um Dasein
und Macht; der Vertrag, in welchem eine gesetzliche Ordnung
entsteht und Ordnung nunmehr zwar vor dem Schlimmsten der
Vergewaltigung schützt, jedoch zugleich den Weg zu dem höchsten
Glück schrankenloser Herrschaft versperrt; die Entstehung von
Sittlichkeit und Religion als einer Ergänzung der
Staatsgesetze im Interesse der Vielen oder der Starken; end-
lich die Fortdauer des egoistischen Interesses in den
Individuen als des wahren Hebels der gesellschaftlichen Be-
wegungen 1). Euripides ist der dichterische Vertreter dieser neuen
individualistischen Zeiten und er hat in seinen Schauspielen solche
radikale Theoreme als Grundlage der Handlungen bestimmter
Personen mit einer Energie hingestellt, welche sein persönliches
Interesse durchblicken läßt. Aristophanes hat in einer berühmten
Wechselrede den Satz, daß es kein der Gewalt gegenüber selbständig
begründetes Recht gebe, als einen Streitsatz seiner Tage verspottet.
Und wie auf dem Theater, so ließ sich dies radikale Naturrecht
auch in den politischen Versammlungen vernehmen; soviel wenigstens
kann aus den Reden des Thucydides geschlossen werden, welches
auch der Grad ihrer Authenticität in jedem einzelnen Falle sein
mag 2).


1) Die Stellen Platos müssen nach dem Kanon benutzt werden, daß,
wo Konsequenzen von ihm selber gezogen werden, dies durch die Art, wie
sie aus dem Gegner durch Folgern herausgelockt werden, angedeutet ist, da-
gegen wo die Sätze, wie von Thrasymachus und Glauco im ersten und
zweiten Buch der Politie geschieht, dem Socrates entgegengebracht werden,
ein Bericht über die fremde Theorie vorliegt. Was die Darlegung der Theorie
durch Glauco betrifft, so hätte Plato sie nicht einem Jüngling in den
Mund gelegt, wäre sie eine selbständige Fortbildung.
2) Vgl. besonders die Erörterung zwischen den Meliern und den
athenischen Gesandten bei Thucydides V, 85 ff. aus dem Jahre 416.

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
Es entſteht eine metaphyſiſche Kosmogonie der ſittlichen und
geſellſchaftlichen Ordnung. Die ganze metaphyſiſche Maſchinerie
dieſes radikalen Naturrechts, wie ſie uns in Hobbes und Spinoza
wieder begegnet, findet ſich in dieſer Kosmogonie der Geſellſchaft
ſchon angewandt: der Kampf ſtarker, den Thieren vergleichbarer
Individuen unter einander in einem geſetzloſen Leben um Daſein
und Macht; der Vertrag, in welchem eine geſetzliche Ordnung
entſteht und Ordnung nunmehr zwar vor dem Schlimmſten der
Vergewaltigung ſchützt, jedoch zugleich den Weg zu dem höchſten
Glück ſchrankenloſer Herrſchaft verſperrt; die Entſtehung von
Sittlichkeit und Religion als einer Ergänzung der
Staatsgeſetze im Intereſſe der Vielen oder der Starken; end-
lich die Fortdauer des egoiſtiſchen Intereſſes in den
Individuen als des wahren Hebels der geſellſchaftlichen Be-
wegungen 1). Euripides iſt der dichteriſche Vertreter dieſer neuen
individualiſtiſchen Zeiten und er hat in ſeinen Schauſpielen ſolche
radikale Theoreme als Grundlage der Handlungen beſtimmter
Perſonen mit einer Energie hingeſtellt, welche ſein perſönliches
Intereſſe durchblicken läßt. Ariſtophanes hat in einer berühmten
Wechſelrede den Satz, daß es kein der Gewalt gegenüber ſelbſtändig
begründetes Recht gebe, als einen Streitſatz ſeiner Tage verſpottet.
Und wie auf dem Theater, ſo ließ ſich dies radikale Naturrecht
auch in den politiſchen Verſammlungen vernehmen; ſoviel wenigſtens
kann aus den Reden des Thucydides geſchloſſen werden, welches
auch der Grad ihrer Authenticität in jedem einzelnen Falle ſein
mag 2).


1) Die Stellen Platos müſſen nach dem Kanon benutzt werden, daß,
wo Konſequenzen von ihm ſelber gezogen werden, dies durch die Art, wie
ſie aus dem Gegner durch Folgern herausgelockt werden, angedeutet iſt, da-
gegen wo die Sätze, wie von Thraſymachus und Glauco im erſten und
zweiten Buch der Politie geſchieht, dem Socrates entgegengebracht werden,
ein Bericht über die fremde Theorie vorliegt. Was die Darlegung der Theorie
durch Glauco betrifft, ſo hätte Plato ſie nicht einem Jüngling in den
Mund gelegt, wäre ſie eine ſelbſtändige Fortbildung.
2) Vgl. beſonders die Erörterung zwiſchen den Meliern und den
atheniſchen Geſandten bei Thucydides V, 85 ff. aus dem Jahre 416.
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[280/0303] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Es entſteht eine metaphyſiſche Kosmogonie der ſittlichen und geſellſchaftlichen Ordnung. Die ganze metaphyſiſche Maſchinerie dieſes radikalen Naturrechts, wie ſie uns in Hobbes und Spinoza wieder begegnet, findet ſich in dieſer Kosmogonie der Geſellſchaft ſchon angewandt: der Kampf ſtarker, den Thieren vergleichbarer Individuen unter einander in einem geſetzloſen Leben um Daſein und Macht; der Vertrag, in welchem eine geſetzliche Ordnung entſteht und Ordnung nunmehr zwar vor dem Schlimmſten der Vergewaltigung ſchützt, jedoch zugleich den Weg zu dem höchſten Glück ſchrankenloſer Herrſchaft verſperrt; die Entſtehung von Sittlichkeit und Religion als einer Ergänzung der Staatsgeſetze im Intereſſe der Vielen oder der Starken; end- lich die Fortdauer des egoiſtiſchen Intereſſes in den Individuen als des wahren Hebels der geſellſchaftlichen Be- wegungen 1). Euripides iſt der dichteriſche Vertreter dieſer neuen individualiſtiſchen Zeiten und er hat in ſeinen Schauſpielen ſolche radikale Theoreme als Grundlage der Handlungen beſtimmter Perſonen mit einer Energie hingeſtellt, welche ſein perſönliches Intereſſe durchblicken läßt. Ariſtophanes hat in einer berühmten Wechſelrede den Satz, daß es kein der Gewalt gegenüber ſelbſtändig begründetes Recht gebe, als einen Streitſatz ſeiner Tage verſpottet. Und wie auf dem Theater, ſo ließ ſich dies radikale Naturrecht auch in den politiſchen Verſammlungen vernehmen; ſoviel wenigſtens kann aus den Reden des Thucydides geſchloſſen werden, welches auch der Grad ihrer Authenticität in jedem einzelnen Falle ſein mag 2). 1) Die Stellen Platos müſſen nach dem Kanon benutzt werden, daß, wo Konſequenzen von ihm ſelber gezogen werden, dies durch die Art, wie ſie aus dem Gegner durch Folgern herausgelockt werden, angedeutet iſt, da- gegen wo die Sätze, wie von Thraſymachus und Glauco im erſten und zweiten Buch der Politie geſchieht, dem Socrates entgegengebracht werden, ein Bericht über die fremde Theorie vorliegt. Was die Darlegung der Theorie durch Glauco betrifft, ſo hätte Plato ſie nicht einem Jüngling in den Mund gelegt, wäre ſie eine ſelbſtändige Fortbildung. 2) Vgl. beſonders die Erörterung zwiſchen den Meliern und den atheniſchen Geſandten bei Thucydides V, 85 ff. aus dem Jahre 416.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 280. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/303>, abgerufen am 22.11.2024.