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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Bedeutung und Grenzen des Naturrechts der Sophisten.

Die Grenzen dieses Naturrechts sind bedingt durch
die dargelegten Schranken des griechischen Menschen und der
griechischen Gesellschaft. Nirgend handelt es sich im griechischen
Naturrecht um die subjektiven Rechtssphären der in der Gesell-
schaft zusammenwirkenden Individuen; nirgend ist das Ziel dieses
Naturrechts die Freiheit in solchem Verstande. Das Streben des
Individuums ist nach diesen radikalen Schriften nur auf den An-
theil der gesellschaftlichen Atome an der Macht und dem Nutzen
der so entstehenden Ordnung gerichtet. So stützten sie hier die
Tyrannis dort den Gedanken einer demokratischen Gleichwerthig-
keit dieser gesellschaftlichen Atome in der Staatsordnung, und
hier wie dort ist ihr letztes Wort die Sklaverei jedes höheren
und idealen Willens. Andrerseits ist diese naturrechtliche Meta-
physik in der gemäßigten Schule, die Hippias repräsentirt, nur
auf die Sonderung einer objektiven Ordnung der Natur von der
Satzung des einzelnen Staates gerichtet. An diese Schranken stößt
die cynische und stoische Staatslehre, aber durchbricht sie nicht.
Sie verhält sich auf diesem Gebiet zu unserer modernen Rechts-
anschauung ganz so, wie sich der sophistische und skeptische Relati-
vismus zu der modernen Erkenntnißtheorie verhält.

So lagen in dieser Bewegung die Keime zu den verschie-
denen Richtungen
derjenigen Theorie der Gesellschaft, welche
als Naturrecht bezeichnet wird. Das Naturrecht ist, nachdem
es nunmehr ausgebildet war, in verhältnißmäßig stetiger Suc-
cession von den alten Völkern auf die neueren übergegangen. Es
ist auch im Mittelalter in einer breiten Literatur gepflegt
worden. Aber seine Herrschaft und seine praktische Wirksamkeit
war auch bei den neueren Völkern durch das Eintreten des-
jenigen Stadiums der gesellschaftlichen Entwicklung bedingt, in
welchem es bei den alten Völkern entstanden war. Erst mit
dem Niedergang der feudalen Ordnungen bei dieser zweiten
Generation europäischer Völker erhebt sich das Naturrecht derselben
zu einer leitenden Stellung in der Geschichte der Gesellschaft. Es
vollbrachte nun sein negatives Werk, als dessen Beschluß die Wir-
kung eines Rousseau auf die Revolution, eines Pufendorf, Kant und

Bedeutung und Grenzen des Naturrechts der Sophiſten.

Die Grenzen dieſes Naturrechts ſind bedingt durch
die dargelegten Schranken des griechiſchen Menſchen und der
griechiſchen Geſellſchaft. Nirgend handelt es ſich im griechiſchen
Naturrecht um die ſubjektiven Rechtsſphären der in der Geſell-
ſchaft zuſammenwirkenden Individuen; nirgend iſt das Ziel dieſes
Naturrechts die Freiheit in ſolchem Verſtande. Das Streben des
Individuums iſt nach dieſen radikalen Schriften nur auf den An-
theil der geſellſchaftlichen Atome an der Macht und dem Nutzen
der ſo entſtehenden Ordnung gerichtet. So ſtützten ſie hier die
Tyrannis dort den Gedanken einer demokratiſchen Gleichwerthig-
keit dieſer geſellſchaftlichen Atome in der Staatsordnung, und
hier wie dort iſt ihr letztes Wort die Sklaverei jedes höheren
und idealen Willens. Andrerſeits iſt dieſe naturrechtliche Meta-
phyſik in der gemäßigten Schule, die Hippias repräſentirt, nur
auf die Sonderung einer objektiven Ordnung der Natur von der
Satzung des einzelnen Staates gerichtet. An dieſe Schranken ſtößt
die cyniſche und ſtoiſche Staatslehre, aber durchbricht ſie nicht.
Sie verhält ſich auf dieſem Gebiet zu unſerer modernen Rechts-
anſchauung ganz ſo, wie ſich der ſophiſtiſche und ſkeptiſche Relati-
vismus zu der modernen Erkenntnißtheorie verhält.

So lagen in dieſer Bewegung die Keime zu den verſchie-
denen Richtungen
derjenigen Theorie der Geſellſchaft, welche
als Naturrecht bezeichnet wird. Das Naturrecht iſt, nachdem
es nunmehr ausgebildet war, in verhältnißmäßig ſtetiger Suc-
ceſſion von den alten Völkern auf die neueren übergegangen. Es
iſt auch im Mittelalter in einer breiten Literatur gepflegt
worden. Aber ſeine Herrſchaft und ſeine praktiſche Wirkſamkeit
war auch bei den neueren Völkern durch das Eintreten des-
jenigen Stadiums der geſellſchaftlichen Entwicklung bedingt, in
welchem es bei den alten Völkern entſtanden war. Erſt mit
dem Niedergang der feudalen Ordnungen bei dieſer zweiten
Generation europäiſcher Völker erhebt ſich das Naturrecht derſelben
zu einer leitenden Stellung in der Geſchichte der Geſellſchaft. Es
vollbrachte nun ſein negatives Werk, als deſſen Beſchluß die Wir-
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[281/0304] Bedeutung und Grenzen des Naturrechts der Sophiſten. Die Grenzen dieſes Naturrechts ſind bedingt durch die dargelegten Schranken des griechiſchen Menſchen und der griechiſchen Geſellſchaft. Nirgend handelt es ſich im griechiſchen Naturrecht um die ſubjektiven Rechtsſphären der in der Geſell- ſchaft zuſammenwirkenden Individuen; nirgend iſt das Ziel dieſes Naturrechts die Freiheit in ſolchem Verſtande. Das Streben des Individuums iſt nach dieſen radikalen Schriften nur auf den An- theil der geſellſchaftlichen Atome an der Macht und dem Nutzen der ſo entſtehenden Ordnung gerichtet. So ſtützten ſie hier die Tyrannis dort den Gedanken einer demokratiſchen Gleichwerthig- keit dieſer geſellſchaftlichen Atome in der Staatsordnung, und hier wie dort iſt ihr letztes Wort die Sklaverei jedes höheren und idealen Willens. Andrerſeits iſt dieſe naturrechtliche Meta- phyſik in der gemäßigten Schule, die Hippias repräſentirt, nur auf die Sonderung einer objektiven Ordnung der Natur von der Satzung des einzelnen Staates gerichtet. An dieſe Schranken ſtößt die cyniſche und ſtoiſche Staatslehre, aber durchbricht ſie nicht. Sie verhält ſich auf dieſem Gebiet zu unſerer modernen Rechts- anſchauung ganz ſo, wie ſich der ſophiſtiſche und ſkeptiſche Relati- vismus zu der modernen Erkenntnißtheorie verhält. So lagen in dieſer Bewegung die Keime zu den verſchie- denen Richtungen derjenigen Theorie der Geſellſchaft, welche als Naturrecht bezeichnet wird. Das Naturrecht iſt, nachdem es nunmehr ausgebildet war, in verhältnißmäßig ſtetiger Suc- ceſſion von den alten Völkern auf die neueren übergegangen. Es iſt auch im Mittelalter in einer breiten Literatur gepflegt worden. Aber ſeine Herrſchaft und ſeine praktiſche Wirkſamkeit war auch bei den neueren Völkern durch das Eintreten des- jenigen Stadiums der geſellſchaftlichen Entwicklung bedingt, in welchem es bei den alten Völkern entſtanden war. Erſt mit dem Niedergang der feudalen Ordnungen bei dieſer zweiten Generation europäiſcher Völker erhebt ſich das Naturrecht derſelben zu einer leitenden Stellung in der Geſchichte der Geſellſchaft. Es vollbrachte nun ſein negatives Werk, als deſſen Beſchluß die Wir- kung eines Rouſſeau auf die Revolution, eines Pufendorf, Kant und

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/304>, abgerufen am 22.11.2024.