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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
des Willens endigt und in seinem System das Gebiet der prak-
tischen Vernunft von dem der theoretischen Wissenschaft gesondert
ist. Aber die Prämissen seiner Auffassung von der Einheit des
Staates sind die folgenden. Der teleologische Zusammen-
hang
zeigt in dem Reiche der organischen Wesen eine Steigerung
der Funktionen; sie entspricht der Steigerung des Psychischen.
Die Gattung des Menschen ist so die höchste der substantialen
Formen in der Stufenreihe der organischen Wesen. Die Einzel-
wesen in dieser menschlichen Gattung sind aber noch auf andere
Weise verbunden als dadurch, daß sie eine substantiale Form
verwirklichen. Die einzelnen Menschen befinden sich in gesell-
schaftlichen Ganzen
, innerhalb deren die Individuen sich wie
Theile verhalten. Solche Ganze bilden schon Bienen und andere
herdenweise lebende Thiere, in einem viel engeren Verbande aber
der mit Sprache und Verstand zu diesem Zwecke von der Natur
begabte Mensch, welcher das Vermögen der Unterscheidung von
Recht und Unrecht besitzt. Diese Gemeinschaft (Koinonie) ist
als Familie untrennbar mit Menschendasein überhaupt gegeben,
und indem diese zur Dorfgemeinde, weiter zur Polis sich
ausdehnt, erreicht in der letzteren das in der Natur angelegte Ge-
meinschaftsstreben das Endziel der Autarkie d. h. des völligen Selbst-
genügens; die Polis ist der Zweck der mehr elementaren Formen
von Gemeinschaft, der in den weniger zusammengesetzten schon wirk-
sam ist. In diesem Zusammenhang tritt die Formel des Ari-
stoteles auf, daß der Staat ein Ganzes bilde, welches vor
den Familien
und Individuen als seinen Theilen
sei1). Diese Formel drückt aus, daß der Staat nicht ein Werk
menschlicher Willkür sei, sondern ein in der Physis begründetes
System. In der Physis, in welcher der Zweck wirkt, ist ein Zu-
sammenhang von Bestimmungen angelegt, welche nur durch die
einzelnen Individuen und in ihnen sich verwirklichen, welche aber
diese Individuen der Zusammenordnung (taxis) in einer Politie
zuführen, da erst in dieser das Ziel der Eudämonie auf selbst-

1) Vgl. näher Arist. Polit. I, 2 p. 1252b 30 p. 1253a 19.

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
des Willens endigt und in ſeinem Syſtem das Gebiet der prak-
tiſchen Vernunft von dem der theoretiſchen Wiſſenſchaft geſondert
iſt. Aber die Prämiſſen ſeiner Auffaſſung von der Einheit des
Staates ſind die folgenden. Der teleologiſche Zuſammen-
hang
zeigt in dem Reiche der organiſchen Weſen eine Steigerung
der Funktionen; ſie entſpricht der Steigerung des Pſychiſchen.
Die Gattung des Menſchen iſt ſo die höchſte der ſubſtantialen
Formen in der Stufenreihe der organiſchen Weſen. Die Einzel-
weſen in dieſer menſchlichen Gattung ſind aber noch auf andere
Weiſe verbunden als dadurch, daß ſie eine ſubſtantiale Form
verwirklichen. Die einzelnen Menſchen befinden ſich in geſell-
ſchaftlichen Ganzen
, innerhalb deren die Individuen ſich wie
Theile verhalten. Solche Ganze bilden ſchon Bienen und andere
herdenweiſe lebende Thiere, in einem viel engeren Verbande aber
der mit Sprache und Verſtand zu dieſem Zwecke von der Natur
begabte Menſch, welcher das Vermögen der Unterſcheidung von
Recht und Unrecht beſitzt. Dieſe Gemeinſchaft (Koinonie) iſt
als Familie untrennbar mit Menſchendaſein überhaupt gegeben,
und indem dieſe zur Dorfgemeinde, weiter zur Polis ſich
ausdehnt, erreicht in der letzteren das in der Natur angelegte Ge-
meinſchaftsſtreben das Endziel der Autarkie d. h. des völligen Selbſt-
genügens; die Polis iſt der Zweck der mehr elementaren Formen
von Gemeinſchaft, der in den weniger zuſammengeſetzten ſchon wirk-
ſam iſt. In dieſem Zuſammenhang tritt die Formel des Ari-
ſtoteles auf, daß der Staat ein Ganzes bilde, welches vor
den Familien
und Individuen als ſeinen Theilen
ſei1). Dieſe Formel drückt aus, daß der Staat nicht ein Werk
menſchlicher Willkür ſei, ſondern ein in der Phyſis begründetes
Syſtem. In der Phyſis, in welcher der Zweck wirkt, iſt ein Zu-
ſammenhang von Beſtimmungen angelegt, welche nur durch die
einzelnen Individuen und in ihnen ſich verwirklichen, welche aber
dieſe Individuen der Zuſammenordnung (τάξις) in einer Politie
zuführen, da erſt in dieſer das Ziel der Eudämonie auf ſelbſt-

1) Vgl. näher Ariſt. Polit. I, 2 p. 1252b 30 p. 1253a 19.
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[288/0311] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. des Willens endigt und in ſeinem Syſtem das Gebiet der prak- tiſchen Vernunft von dem der theoretiſchen Wiſſenſchaft geſondert iſt. Aber die Prämiſſen ſeiner Auffaſſung von der Einheit des Staates ſind die folgenden. Der teleologiſche Zuſammen- hang zeigt in dem Reiche der organiſchen Weſen eine Steigerung der Funktionen; ſie entſpricht der Steigerung des Pſychiſchen. Die Gattung des Menſchen iſt ſo die höchſte der ſubſtantialen Formen in der Stufenreihe der organiſchen Weſen. Die Einzel- weſen in dieſer menſchlichen Gattung ſind aber noch auf andere Weiſe verbunden als dadurch, daß ſie eine ſubſtantiale Form verwirklichen. Die einzelnen Menſchen befinden ſich in geſell- ſchaftlichen Ganzen, innerhalb deren die Individuen ſich wie Theile verhalten. Solche Ganze bilden ſchon Bienen und andere herdenweiſe lebende Thiere, in einem viel engeren Verbande aber der mit Sprache und Verſtand zu dieſem Zwecke von der Natur begabte Menſch, welcher das Vermögen der Unterſcheidung von Recht und Unrecht beſitzt. Dieſe Gemeinſchaft (Koinonie) iſt als Familie untrennbar mit Menſchendaſein überhaupt gegeben, und indem dieſe zur Dorfgemeinde, weiter zur Polis ſich ausdehnt, erreicht in der letzteren das in der Natur angelegte Ge- meinſchaftsſtreben das Endziel der Autarkie d. h. des völligen Selbſt- genügens; die Polis iſt der Zweck der mehr elementaren Formen von Gemeinſchaft, der in den weniger zuſammengeſetzten ſchon wirk- ſam iſt. In dieſem Zuſammenhang tritt die Formel des Ari- ſtoteles auf, daß der Staat ein Ganzes bilde, welches vor den Familien und Individuen als ſeinen Theilen ſei 1). Dieſe Formel drückt aus, daß der Staat nicht ein Werk menſchlicher Willkür ſei, ſondern ein in der Phyſis begründetes Syſtem. In der Phyſis, in welcher der Zweck wirkt, iſt ein Zu- ſammenhang von Beſtimmungen angelegt, welche nur durch die einzelnen Individuen und in ihnen ſich verwirklichen, welche aber dieſe Individuen der Zuſammenordnung (τάξις) in einer Politie zuführen, da erſt in dieſer das Ziel der Eudämonie auf ſelbſt- 1) Vgl. näher Ariſt. Polit. I, 2 p. 1252b 30 p. 1253a 19.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 288. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/311>, abgerufen am 22.11.2024.