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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Metaphysische Begründung ihrer Selbständigkeit.
Philosophen, deren Einwirkung bis auf die letzten metaphysischen
Schriftsteller unserer Tage verfolgt werden kann 1); von dieser Welt
unvergänglicher Substanzen grenzt es den Theil des Geschaffenen
ab, welcher in der Verbindung von Form und Materie sein Wesen
hat. Diese Metaphysik des Geistes (rationale Psychologie) wurde
dann, als die mechanische Auffassung des Naturzusammenhangs
und die Corpuscularphilosophie zur Herrschaft gelangten, von
anderen hervorragenden Metaphysikern zu derselben in Beziehung
gesetzt. Aber jeder Versuch scheiterte, auf dem Grunde dieser
Substanzenlehre mit den Mitteln der neuen Auffassung der Natur
eine haltbare Vorstellung des Verhältnisses von Geist und Körper
auszubilden. Entwickelte Descartes auf der Grundlage der
klaren und deutlichen Eigenschaften der Körper als von Raum-
größen seine Vorstellung der Natur als eines ungeheuren Mechanis-
mus, betrachtete er die in diesem Ganzen vorhandene Bewegungs-
größe als constant: so trat mit der Annahme, daß auch nur eine
einzige Seele von außen in diesem materiellen System eine Be-
wegung erzeuge, der Widerspruch in das System. Und die Un-
vorstellbarkeit einer Einwirkung unräumlicher Substanzen auf dies
ausgedehnte System wurde dadurch um nichts verringert, daß er
die räumliche Stelle solcher Wechselwirkung in Einen Punkt zusammen-
zog: als könne er die Schwierigkeit damit verschwinden machen. Die
Abenteuerlichkeit der Ansicht, daß die Gottheit durch immer sich
wiederholende Eingriffe dies Spiel der Wechselwirkungen unterhalte,
der anderen Ansicht, daß vielmehr Gott als der geschickteste Künstler
die beiden Uhren des materiellen Systems und der Geisterwelt
von Anfang an so gestellt, daß ein Vorgang der Natur eine Em-
pfindung hervorzurufen, ein Willensakt eine Veränderung der
Außenwelt zu bewirken scheine, erwiesen so deutlich als möglich
die Unverträglichkeit der neuen Metaphysik der Natur mit der über-
lieferten Metaphysik geistiger Substanzen. So wirkte dieses Pro-
blem als ein beständig reizender Stachel zur Auflösung des
metaphysischen Standpunktes überhaupt. Diese Auflösung wird sich

1) Lib. II, c. 46 sq.

Metaphyſiſche Begründung ihrer Selbſtändigkeit.
Philoſophen, deren Einwirkung bis auf die letzten metaphyſiſchen
Schriftſteller unſerer Tage verfolgt werden kann 1); von dieſer Welt
unvergänglicher Subſtanzen grenzt es den Theil des Geſchaffenen
ab, welcher in der Verbindung von Form und Materie ſein Weſen
hat. Dieſe Metaphyſik des Geiſtes (rationale Pſychologie) wurde
dann, als die mechaniſche Auffaſſung des Naturzuſammenhangs
und die Corpuscularphiloſophie zur Herrſchaft gelangten, von
anderen hervorragenden Metaphyſikern zu derſelben in Beziehung
geſetzt. Aber jeder Verſuch ſcheiterte, auf dem Grunde dieſer
Subſtanzenlehre mit den Mitteln der neuen Auffaſſung der Natur
eine haltbare Vorſtellung des Verhältniſſes von Geiſt und Körper
auszubilden. Entwickelte Descartes auf der Grundlage der
klaren und deutlichen Eigenſchaften der Körper als von Raum-
größen ſeine Vorſtellung der Natur als eines ungeheuren Mechanis-
mus, betrachtete er die in dieſem Ganzen vorhandene Bewegungs-
größe als conſtant: ſo trat mit der Annahme, daß auch nur eine
einzige Seele von außen in dieſem materiellen Syſtem eine Be-
wegung erzeuge, der Widerſpruch in das Syſtem. Und die Un-
vorſtellbarkeit einer Einwirkung unräumlicher Subſtanzen auf dies
ausgedehnte Syſtem wurde dadurch um nichts verringert, daß er
die räumliche Stelle ſolcher Wechſelwirkung in Einen Punkt zuſammen-
zog: als könne er die Schwierigkeit damit verſchwinden machen. Die
Abenteuerlichkeit der Anſicht, daß die Gottheit durch immer ſich
wiederholende Eingriffe dies Spiel der Wechſelwirkungen unterhalte,
der anderen Anſicht, daß vielmehr Gott als der geſchickteſte Künſtler
die beiden Uhren des materiellen Syſtems und der Geiſterwelt
von Anfang an ſo geſtellt, daß ein Vorgang der Natur eine Em-
pfindung hervorzurufen, ein Willensakt eine Veränderung der
Außenwelt zu bewirken ſcheine, erwieſen ſo deutlich als möglich
die Unverträglichkeit der neuen Metaphyſik der Natur mit der über-
lieferten Metaphyſik geiſtiger Subſtanzen. So wirkte dieſes Pro-
blem als ein beſtändig reizender Stachel zur Auflöſung des
metaphyſiſchen Standpunktes überhaupt. Dieſe Auflöſung wird ſich

1) Lib. II, c. 46 sq.
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[9/0032] Metaphyſiſche Begründung ihrer Selbſtändigkeit. Philoſophen, deren Einwirkung bis auf die letzten metaphyſiſchen Schriftſteller unſerer Tage verfolgt werden kann 1); von dieſer Welt unvergänglicher Subſtanzen grenzt es den Theil des Geſchaffenen ab, welcher in der Verbindung von Form und Materie ſein Weſen hat. Dieſe Metaphyſik des Geiſtes (rationale Pſychologie) wurde dann, als die mechaniſche Auffaſſung des Naturzuſammenhangs und die Corpuscularphiloſophie zur Herrſchaft gelangten, von anderen hervorragenden Metaphyſikern zu derſelben in Beziehung geſetzt. Aber jeder Verſuch ſcheiterte, auf dem Grunde dieſer Subſtanzenlehre mit den Mitteln der neuen Auffaſſung der Natur eine haltbare Vorſtellung des Verhältniſſes von Geiſt und Körper auszubilden. Entwickelte Descartes auf der Grundlage der klaren und deutlichen Eigenſchaften der Körper als von Raum- größen ſeine Vorſtellung der Natur als eines ungeheuren Mechanis- mus, betrachtete er die in dieſem Ganzen vorhandene Bewegungs- größe als conſtant: ſo trat mit der Annahme, daß auch nur eine einzige Seele von außen in dieſem materiellen Syſtem eine Be- wegung erzeuge, der Widerſpruch in das Syſtem. Und die Un- vorſtellbarkeit einer Einwirkung unräumlicher Subſtanzen auf dies ausgedehnte Syſtem wurde dadurch um nichts verringert, daß er die räumliche Stelle ſolcher Wechſelwirkung in Einen Punkt zuſammen- zog: als könne er die Schwierigkeit damit verſchwinden machen. Die Abenteuerlichkeit der Anſicht, daß die Gottheit durch immer ſich wiederholende Eingriffe dies Spiel der Wechſelwirkungen unterhalte, der anderen Anſicht, daß vielmehr Gott als der geſchickteſte Künſtler die beiden Uhren des materiellen Syſtems und der Geiſterwelt von Anfang an ſo geſtellt, daß ein Vorgang der Natur eine Em- pfindung hervorzurufen, ein Willensakt eine Veränderung der Außenwelt zu bewirken ſcheine, erwieſen ſo deutlich als möglich die Unverträglichkeit der neuen Metaphyſik der Natur mit der über- lieferten Metaphyſik geiſtiger Subſtanzen. So wirkte dieſes Pro- blem als ein beſtändig reizender Stachel zur Auflöſung des metaphyſiſchen Standpunktes überhaupt. Dieſe Auflöſung wird ſich 1) Lib. II, c. 46 sq.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 9. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/32>, abgerufen am 21.11.2024.