Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Zweites Buch. Zweiter Abschnitt. ist. Der Relativismus der modernen Philosophen ist vondem des Sextus Empiricus in keinem Punkte unterschieden, soweit er sich auf den Nachweis der Unmöglichkeit aller Metaphysik bezieht. Er geht nur über ihn hinaus in Bezug auf die Herstellung einer Theorie vom Zusammenhang der Phänomene in den Schranken der Einsicht von ihrer Relativität. Obwol die Wahrscheinlichkeitslehre des berühmtesten aller Skeptiker, des Carneades, doch auch schon entwickelt, daß nach Verzicht auf die Wahrheit die Herstellung eines widerspruchslosen Zusammenhangs der Phänomene zum Zwecke der Feststellung des Werthes eines einzelnen Eindrucks möglich bleibe. Der Relativismus der Skeptiker erweist die Unmöglich- Die erste Frage ist sonach: Welcher ist der Erkenntnißwerth Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. iſt. Der Relativismus der modernen Philoſophen iſt vondem des Sextus Empiricus in keinem Punkte unterſchieden, ſoweit er ſich auf den Nachweis der Unmöglichkeit aller Metaphyſik bezieht. Er geht nur über ihn hinaus in Bezug auf die Herſtellung einer Theorie vom Zuſammenhang der Phänomene in den Schranken der Einſicht von ihrer Relativität. Obwol die Wahrſcheinlichkeitslehre des berühmteſten aller Skeptiker, des Carneades, doch auch ſchon entwickelt, daß nach Verzicht auf die Wahrheit die Herſtellung eines widerſpruchsloſen Zuſammenhangs der Phänomene zum Zwecke der Feſtſtellung des Werthes eines einzelnen Eindrucks möglich bleibe. Der Relativismus der Skeptiker erweiſt die Unmöglich- Die erſte Frage iſt ſonach: Welcher iſt der Erkenntnißwerth <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0323" n="300"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.</fw><lb/> iſt. Der <hi rendition="#g">Relativismus</hi> der modernen Philoſophen iſt von<lb/> dem des Sextus Empiricus in keinem Punkte unterſchieden, ſoweit er<lb/> ſich auf den Nachweis der Unmöglichkeit aller Metaphyſik bezieht.<lb/> Er geht nur über ihn hinaus in Bezug auf die Herſtellung einer<lb/> Theorie vom Zuſammenhang der Phänomene in den Schranken der<lb/> Einſicht von ihrer Relativität. Obwol die Wahrſcheinlichkeitslehre<lb/> des berühmteſten aller Skeptiker, des Carneades, doch auch ſchon<lb/> entwickelt, daß nach Verzicht auf die Wahrheit die Herſtellung eines<lb/> widerſpruchsloſen Zuſammenhangs der Phänomene zum Zwecke der<lb/> Feſtſtellung des Werthes eines einzelnen Eindrucks möglich bleibe.</p><lb/> <p>Der Relativismus der Skeptiker erweiſt die <hi rendition="#g">Unmöglich-<lb/> keit</hi>, den objektiven Zuſammenhang der <hi rendition="#g">Außenwelt</hi> zu erkennen,<lb/> durch die Kritik der <hi rendition="#g">Wahrnehmung</hi> ſowie durch die des<lb/><hi rendition="#g">Denkens</hi>. So bereitet er die große Beweisführung vor, welche<lb/> das ſiebzehnte und achtzehnte Jahrhundert gegeben hat, indem<lb/> die empiriſtiſche Schule ſeit Locke die Wahrnehmung zergliederte, um<lb/> in ihr die Möglichkeit einer objektiven Erkenntniß zu finden, zugleich<lb/> aber die rationale Schule zu demſelben Zwecke das Denken zer-<lb/> gliederte: wobei ſich dann unwiderſprechlich herausſtellte, daß weder<lb/> hier noch dort eine Quelle metaphyſiſcher Erkenntniß des objektiven<lb/> Zuſammenhangs der Erſcheinungen zu entdecken ſei.</p><lb/> <p>Die erſte Frage iſt ſonach: Welcher iſt der Erkenntnißwerth<lb/> des <hi rendition="#g">in der ſinnlichen Wahrnehmung Gegebenen</hi>? Die<lb/> Erſcheinungsbilder ſind zunächſt bedingt durch die <hi rendition="#g">Sinnes-<lb/> organe</hi>. Die protagoreiſche Begründung des Relativismus durch<lb/> Beobachtungen über die Sinne iſt nunmehr vermittelſt eines vor-<lb/> geſchrittenen biologiſchen Studiums vertieft. — Die Sehwerkzeuge<lb/> der <hi rendition="#g">lebenden Weſen</hi> ſind ſehr verſchieden und zwingen uns,<lb/> auf eine Verſchiedenheit der durch ſie bedingten Geſichtsbilder zu<lb/> ſchließen. Hier wendet dieſe Schule die Methode an, ſubjektive<lb/> Sinneserſcheinungen zu beobachten und die Bedingungen, unter<lb/> denen ſie auftreten, als Analogien zu benutzen, um ſich über die<lb/> Abweichungen der Geſichtsbilder der Thiere von den normalen<lb/> menſchlichen Geſichtseindrücken eine Vorſtellung zu bilden. Daſſelbe<lb/> Verfahren wird auch durch die anderen Sinnesorgane hindurch ver-<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [300/0323]
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
iſt. Der Relativismus der modernen Philoſophen iſt von
dem des Sextus Empiricus in keinem Punkte unterſchieden, ſoweit er
ſich auf den Nachweis der Unmöglichkeit aller Metaphyſik bezieht.
Er geht nur über ihn hinaus in Bezug auf die Herſtellung einer
Theorie vom Zuſammenhang der Phänomene in den Schranken der
Einſicht von ihrer Relativität. Obwol die Wahrſcheinlichkeitslehre
des berühmteſten aller Skeptiker, des Carneades, doch auch ſchon
entwickelt, daß nach Verzicht auf die Wahrheit die Herſtellung eines
widerſpruchsloſen Zuſammenhangs der Phänomene zum Zwecke der
Feſtſtellung des Werthes eines einzelnen Eindrucks möglich bleibe.
Der Relativismus der Skeptiker erweiſt die Unmöglich-
keit, den objektiven Zuſammenhang der Außenwelt zu erkennen,
durch die Kritik der Wahrnehmung ſowie durch die des
Denkens. So bereitet er die große Beweisführung vor, welche
das ſiebzehnte und achtzehnte Jahrhundert gegeben hat, indem
die empiriſtiſche Schule ſeit Locke die Wahrnehmung zergliederte, um
in ihr die Möglichkeit einer objektiven Erkenntniß zu finden, zugleich
aber die rationale Schule zu demſelben Zwecke das Denken zer-
gliederte: wobei ſich dann unwiderſprechlich herausſtellte, daß weder
hier noch dort eine Quelle metaphyſiſcher Erkenntniß des objektiven
Zuſammenhangs der Erſcheinungen zu entdecken ſei.
Die erſte Frage iſt ſonach: Welcher iſt der Erkenntnißwerth
des in der ſinnlichen Wahrnehmung Gegebenen? Die
Erſcheinungsbilder ſind zunächſt bedingt durch die Sinnes-
organe. Die protagoreiſche Begründung des Relativismus durch
Beobachtungen über die Sinne iſt nunmehr vermittelſt eines vor-
geſchrittenen biologiſchen Studiums vertieft. — Die Sehwerkzeuge
der lebenden Weſen ſind ſehr verſchieden und zwingen uns,
auf eine Verſchiedenheit der durch ſie bedingten Geſichtsbilder zu
ſchließen. Hier wendet dieſe Schule die Methode an, ſubjektive
Sinneserſcheinungen zu beobachten und die Bedingungen, unter
denen ſie auftreten, als Analogien zu benutzen, um ſich über die
Abweichungen der Geſichtsbilder der Thiere von den normalen
menſchlichen Geſichtseindrücken eine Vorſtellung zu bilden. Daſſelbe
Verfahren wird auch durch die anderen Sinnesorgane hindurch ver-
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