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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Zweiter Abschnitt.
reale Existenz, sondern wird nur zu dem Wirklichen hinzuge-
dacht 1). Er bemerkt, daß die Ursache weder als der Wirkung
vorausgehend noch als ihr gleichzeitig gedacht werden kann. Ja
ihm zeigt sich, daß jeder Versuch, das Verhältniß von Ursache
und Wirkung in seinen einzelnen Bestandtheilen klar zu denken,
unausführbar ist. Demgemäß erfuhr die Denkbarkeit des Verhält-
nisses von Ursache und Wirkung von Seiten des Skepticismus
bereits Angriffe, welchen gegenüber es keine Vertheidigung giebt. --
Der Begriff Gottes als der Weltursache wird von Carneades
dem Zweifel unterworfen, in einer sehr flachen Bestreitung der
flachen im Menschen den Naturzweck erblickenden Teleologie, als-
dann aber vermittelst einer Aufdeckung der Antinomie zwischen
den Eigenschaften eines persönlichen Wesens und der Natur des
Vollkommenen und Unendlichen 2). -- Ebenso werden in den mathe-
matischen und physikalischen Grundbegriffen von Körper, Aus-
dehnung, Bewegung, Mischung die bekannten Schwierigkeiten
für den zerlegenden Verstand nachgewiesen.

Der Gegensatz der skeptischen Schulen zu der praktischen
Philosophie
der Metaphysiker koncentrirte sich in der Bestreitung
der fundamentalen Theorie vom höchsten Gute. Auch diese
Polemik zeigt den schwachen Punkt in ihrer Position sehr deutlich.
Ihr scharfsinnigstes Argument ist dieses. Ein Streben des Willens
nach dem Gutem als seinem Objekt setzt voraus, daß nicht in
diesem Streben selber schon das Gute gelegen sei, da wir ja aus
dem Zustande des Strebens heraustreten wollen, sondern in seinem
Ziele. Nun kann dieses Ziel nicht ein Thatbestand außer uns,
sondern muß unser eigener Zustand, unsere Gemüthsverfassung
sein; auch ein körperlicher Zustand ist nur in der Gemüthsver-
fassung für uns als Gut vorhanden. Soweit ist die Darlegung
vortrefflich. Aber nun tritt wieder die beständig wirkende Ver-
wechselung des unmittelbaren Wissens mit abstrakter Erkenntniß

1) Sextus, adv. Math. IX, 204 sq.
2) Jedoch hat auch Carneades das Dasein der Götter nicht leugnen
wollen. Cicero, N. D. III, 17, 44. Haec Carneades aiebat, non ut deos
tolleret, sed ut Stoicos nihil de diis explicare convinceret
.

Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt.
reale Exiſtenz, ſondern wird nur zu dem Wirklichen hinzuge-
dacht 1). Er bemerkt, daß die Urſache weder als der Wirkung
vorausgehend noch als ihr gleichzeitig gedacht werden kann. Ja
ihm zeigt ſich, daß jeder Verſuch, das Verhältniß von Urſache
und Wirkung in ſeinen einzelnen Beſtandtheilen klar zu denken,
unausführbar iſt. Demgemäß erfuhr die Denkbarkeit des Verhält-
niſſes von Urſache und Wirkung von Seiten des Skepticismus
bereits Angriffe, welchen gegenüber es keine Vertheidigung giebt. —
Der Begriff Gottes als der Welturſache wird von Carneades
dem Zweifel unterworfen, in einer ſehr flachen Beſtreitung der
flachen im Menſchen den Naturzweck erblickenden Teleologie, als-
dann aber vermittelſt einer Aufdeckung der Antinomie zwiſchen
den Eigenſchaften eines perſönlichen Weſens und der Natur des
Vollkommenen und Unendlichen 2). — Ebenſo werden in den mathe-
matiſchen und phyſikaliſchen Grundbegriffen von Körper, Aus-
dehnung, Bewegung, Miſchung die bekannten Schwierigkeiten
für den zerlegenden Verſtand nachgewieſen.

Der Gegenſatz der ſkeptiſchen Schulen zu der praktiſchen
Philoſophie
der Metaphyſiker koncentrirte ſich in der Beſtreitung
der fundamentalen Theorie vom höchſten Gute. Auch dieſe
Polemik zeigt den ſchwachen Punkt in ihrer Poſition ſehr deutlich.
Ihr ſcharfſinnigſtes Argument iſt dieſes. Ein Streben des Willens
nach dem Gutem als ſeinem Objekt ſetzt voraus, daß nicht in
dieſem Streben ſelber ſchon das Gute gelegen ſei, da wir ja aus
dem Zuſtande des Strebens heraustreten wollen, ſondern in ſeinem
Ziele. Nun kann dieſes Ziel nicht ein Thatbeſtand außer uns,
ſondern muß unſer eigener Zuſtand, unſere Gemüthsverfaſſung
ſein; auch ein körperlicher Zuſtand iſt nur in der Gemüthsver-
faſſung für uns als Gut vorhanden. Soweit iſt die Darlegung
vortrefflich. Aber nun tritt wieder die beſtändig wirkende Ver-
wechſelung des unmittelbaren Wiſſens mit abſtrakter Erkenntniß

1) Sextus, adv. Math. IX, 204 sq.
2) Jedoch hat auch Carneades das Daſein der Götter nicht leugnen
wollen. Cicero, N. D. III, 17, 44. Haec Carneades aiebat, non ut deos
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[304/0327] Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. reale Exiſtenz, ſondern wird nur zu dem Wirklichen hinzuge- dacht 1). Er bemerkt, daß die Urſache weder als der Wirkung vorausgehend noch als ihr gleichzeitig gedacht werden kann. Ja ihm zeigt ſich, daß jeder Verſuch, das Verhältniß von Urſache und Wirkung in ſeinen einzelnen Beſtandtheilen klar zu denken, unausführbar iſt. Demgemäß erfuhr die Denkbarkeit des Verhält- niſſes von Urſache und Wirkung von Seiten des Skepticismus bereits Angriffe, welchen gegenüber es keine Vertheidigung giebt. — Der Begriff Gottes als der Welturſache wird von Carneades dem Zweifel unterworfen, in einer ſehr flachen Beſtreitung der flachen im Menſchen den Naturzweck erblickenden Teleologie, als- dann aber vermittelſt einer Aufdeckung der Antinomie zwiſchen den Eigenſchaften eines perſönlichen Weſens und der Natur des Vollkommenen und Unendlichen 2). — Ebenſo werden in den mathe- matiſchen und phyſikaliſchen Grundbegriffen von Körper, Aus- dehnung, Bewegung, Miſchung die bekannten Schwierigkeiten für den zerlegenden Verſtand nachgewieſen. Der Gegenſatz der ſkeptiſchen Schulen zu der praktiſchen Philoſophie der Metaphyſiker koncentrirte ſich in der Beſtreitung der fundamentalen Theorie vom höchſten Gute. Auch dieſe Polemik zeigt den ſchwachen Punkt in ihrer Poſition ſehr deutlich. Ihr ſcharfſinnigſtes Argument iſt dieſes. Ein Streben des Willens nach dem Gutem als ſeinem Objekt ſetzt voraus, daß nicht in dieſem Streben ſelber ſchon das Gute gelegen ſei, da wir ja aus dem Zuſtande des Strebens heraustreten wollen, ſondern in ſeinem Ziele. Nun kann dieſes Ziel nicht ein Thatbeſtand außer uns, ſondern muß unſer eigener Zuſtand, unſere Gemüthsverfaſſung ſein; auch ein körperlicher Zuſtand iſt nur in der Gemüthsver- faſſung für uns als Gut vorhanden. Soweit iſt die Darlegung vortrefflich. Aber nun tritt wieder die beſtändig wirkende Ver- wechſelung des unmittelbaren Wiſſens mit abſtrakter Erkenntniß 1) Sextus, adv. Math. IX, 204 sq. 2) Jedoch hat auch Carneades das Daſein der Götter nicht leugnen wollen. Cicero, N. D. III, 17, 44. Haec Carneades aiebat, non ut deos tolleret, sed ut Stoicos nihil de diis explicare convinceret.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 304. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/327>, abgerufen am 22.11.2024.