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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
das Wort im höchsten Verstande genommen, nun erst das ge-
schichtliche Bewußtsein
.

Wir verstehen, indem wir aus unserem eigenen tiefen Leben
dem Staube des Vergangenen Leben und Athem wiedergeben. Es
bedarf gleichsam der Versetzung unseres Selbst von einem Stand-
ort auf den andern, wenn wir den Fortgang der geschichtlichen
Entwicklung von innen und in seinem centralen Zusammenhang
verstehen sollen. Die allgemeine psychologische Bedingung hier-
für ist immer in der Phantasie vorhanden; aber erst wenn der
geschichtliche Fortgang an den tiefsten Punkten, an welchen ein
Fortrücken stattfindet, von der Phantasie nacherlebt wird, entsteht
ein gründliches Verständniß der geschichtlichen Entwicklung. Als
in einem Paulus in den Kämpfen des Gewissens das jüdische
Gesetz, das heidnische Weltbewußtsein und der Christenglaube an-
einanderstießen, als in seinem Erlebniß Gesetzesglaube und
Christenglaube als zwei lebendige Erfahrungen in innerstem
Verstehen aneinandergehalten wurden, und zwar von der Er-
fahrung des lebendigen Gottes aus: da waren in diesem Be-
wußtsein eine große geschichtliche Vergangenheit und eine große
geschichtliche Gegenwart zusammen gegenwärtig, beide in ihrer
tiefsten, der religiösen Grundlage erfaßt, ein innerer Uebergang
wurde erlebt, und so ging das volle Bewußtsein von einer ge-
schichtlichen Entwicklung des ganzen Seelenlebens auf. Denn nur
was in dem Reichthum des Gemüthes nacherlebt wird von den
Thatsächlichkeiten der Geschichte, wird verstanden. Und in dem
Maße, als das Erleben in die tiefe und centrale Grundlage der
Kultur hinabreicht, vermittelt es dies Verständniß; wenn wir
auch alle nur theilweise verstehen, was vergangen ist. Die höchste
Lebendigkeit der Phantasie, der größte vitale Reichthum des Inneren
reichen nicht aus, wo nicht das Seelenleben selber in diesem Sinne
geschichtlich ist. So geht von hier zu dem Gedanken der Erziehung
des Menschengeschlechtes in Clemens, von diesem zu dem Gottes-
staat des Augustinus und von diesem Buch zu jedem neueren Ver-
such, den inneren Zusammenhang der Menschheitsgeschichte zu er-
fassen, Eine Linie. Das Ringen der Religionen unter einander in

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
das Wort im höchſten Verſtande genommen, nun erſt das ge-
ſchichtliche Bewußtſein
.

Wir verſtehen, indem wir aus unſerem eigenen tiefen Leben
dem Staube des Vergangenen Leben und Athem wiedergeben. Es
bedarf gleichſam der Verſetzung unſeres Selbſt von einem Stand-
ort auf den andern, wenn wir den Fortgang der geſchichtlichen
Entwicklung von innen und in ſeinem centralen Zuſammenhang
verſtehen ſollen. Die allgemeine pſychologiſche Bedingung hier-
für iſt immer in der Phantaſie vorhanden; aber erſt wenn der
geſchichtliche Fortgang an den tiefſten Punkten, an welchen ein
Fortrücken ſtattfindet, von der Phantaſie nacherlebt wird, entſteht
ein gründliches Verſtändniß der geſchichtlichen Entwicklung. Als
in einem Paulus in den Kämpfen des Gewiſſens das jüdiſche
Geſetz, das heidniſche Weltbewußtſein und der Chriſtenglaube an-
einanderſtießen, als in ſeinem Erlebniß Geſetzesglaube und
Chriſtenglaube als zwei lebendige Erfahrungen in innerſtem
Verſtehen aneinandergehalten wurden, und zwar von der Er-
fahrung des lebendigen Gottes aus: da waren in dieſem Be-
wußtſein eine große geſchichtliche Vergangenheit und eine große
geſchichtliche Gegenwart zuſammen gegenwärtig, beide in ihrer
tiefſten, der religiöſen Grundlage erfaßt, ein innerer Uebergang
wurde erlebt, und ſo ging das volle Bewußtſein von einer ge-
ſchichtlichen Entwicklung des ganzen Seelenlebens auf. Denn nur
was in dem Reichthum des Gemüthes nacherlebt wird von den
Thatſächlichkeiten der Geſchichte, wird verſtanden. Und in dem
Maße, als das Erleben in die tiefe und centrale Grundlage der
Kultur hinabreicht, vermittelt es dies Verſtändniß; wenn wir
auch alle nur theilweiſe verſtehen, was vergangen iſt. Die höchſte
Lebendigkeit der Phantaſie, der größte vitale Reichthum des Inneren
reichen nicht aus, wo nicht das Seelenleben ſelber in dieſem Sinne
geſchichtlich iſt. So geht von hier zu dem Gedanken der Erziehung
des Menſchengeſchlechtes in Clemens, von dieſem zu dem Gottes-
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[320/0343] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. das Wort im höchſten Verſtande genommen, nun erſt das ge- ſchichtliche Bewußtſein. Wir verſtehen, indem wir aus unſerem eigenen tiefen Leben dem Staube des Vergangenen Leben und Athem wiedergeben. Es bedarf gleichſam der Verſetzung unſeres Selbſt von einem Stand- ort auf den andern, wenn wir den Fortgang der geſchichtlichen Entwicklung von innen und in ſeinem centralen Zuſammenhang verſtehen ſollen. Die allgemeine pſychologiſche Bedingung hier- für iſt immer in der Phantaſie vorhanden; aber erſt wenn der geſchichtliche Fortgang an den tiefſten Punkten, an welchen ein Fortrücken ſtattfindet, von der Phantaſie nacherlebt wird, entſteht ein gründliches Verſtändniß der geſchichtlichen Entwicklung. Als in einem Paulus in den Kämpfen des Gewiſſens das jüdiſche Geſetz, das heidniſche Weltbewußtſein und der Chriſtenglaube an- einanderſtießen, als in ſeinem Erlebniß Geſetzesglaube und Chriſtenglaube als zwei lebendige Erfahrungen in innerſtem Verſtehen aneinandergehalten wurden, und zwar von der Er- fahrung des lebendigen Gottes aus: da waren in dieſem Be- wußtſein eine große geſchichtliche Vergangenheit und eine große geſchichtliche Gegenwart zuſammen gegenwärtig, beide in ihrer tiefſten, der religiöſen Grundlage erfaßt, ein innerer Uebergang wurde erlebt, und ſo ging das volle Bewußtſein von einer ge- ſchichtlichen Entwicklung des ganzen Seelenlebens auf. Denn nur was in dem Reichthum des Gemüthes nacherlebt wird von den Thatſächlichkeiten der Geſchichte, wird verſtanden. Und in dem Maße, als das Erleben in die tiefe und centrale Grundlage der Kultur hinabreicht, vermittelt es dies Verſtändniß; wenn wir auch alle nur theilweiſe verſtehen, was vergangen iſt. Die höchſte Lebendigkeit der Phantaſie, der größte vitale Reichthum des Inneren reichen nicht aus, wo nicht das Seelenleben ſelber in dieſem Sinne geſchichtlich iſt. So geht von hier zu dem Gedanken der Erziehung des Menſchengeſchlechtes in Clemens, von dieſem zu dem Gottes- ſtaat des Auguſtinus und von dieſem Buch zu jedem neueren Ver- ſuch, den inneren Zuſammenhang der Menſchheitsgeſchichte zu er- faſſen, Eine Linie. Das Ringen der Religionen unter einander in

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 320. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/343>, abgerufen am 22.11.2024.