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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Der Offenbarungsglaube der alternden Völker.
alten Kultur die Aufgaben der philosophischen Wissenschaft ganz mit
den Bedürfnissen des religiös-sittlichen Lebens. Unter dem gemein-
samen Dache des römischen Imperiums zusammenwohnend, paßten
Griechen ihre Gedanken den Vorstellungen und Symbolen der Orien-
talen über das Leben an, und Egypter, Juden etc. formten noch
kräftiger das griechische Bild der Welt um. In der so vielfach
unbefriedigten und bedrohten Gesellschaft jener Tage siegte die
Richtung auf das Jenseitige. "Aus unerforschlichen Tiefen," sagt
Jakob Burckhardt, "pflegt solchen neuen Richtungen ihre wesentliche
Kraft zu kommen, durch bloße Folgerungen aus vorhergegangenen
Zuständen sind sie nicht zu deduciren." -- In das religiöse Leben,
welchem in den inneren Erfahrungen des Willens Gott als Wille,
Person zu Person, gegeben ist, finden wir überall den Offen-
barungsglauben verwoben. Die schwere Aufgabe einer Analysis
des Inhaltes der monotheistischen Religion kann hier auch nicht
angerührt werden; aber das tiefste Geheimniß dieser Religion liegt
in der Beziehung der Erfahrung eigener Zustände zu dem Wirken
Gottes im Gemüth und Schicksal, hier hat das religiöse Leben
sein der allgemeingiltigen Erkenntniß, ja der Vorstellbarkeit über-
haupt entzogenes Reich. In diesen Zeiten drang nun, wie aus
unsichtbaren Tiefen, aus dem Untergrund des religiösen Lebens
der Offenbarungsglaube in die Wissenschaft der Metaphysik, in der
er immer fremd bleibt und verwirrend wirken muß. So erschien
in der Metaphysik ein Satz, der ein ganz neues Prinzip derselben
würde enthalten haben, läge er nicht überhaupt jenseit der Grenzen
wissenschaftlichen Denkens. Dieser Satz behauptete, daß eine
unmittelbare Mittheilung von Gott an die Menschenseele ergehe,
daß sie seine Offenbarung unmittelbar vernehme. So wies
Philo, im Zeitalter Christi, gestützt auf die Beweisführung der
Skepsis 1), die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Erkenntniß
des Kosmos ab; zugleich machte er gegen die innere Erfahrung,
ähnlich wie später die Positivisten, geltend: das Auge gewahre
zwar die Objekte außer sich, doch nicht sich selber, so könne auch

1) Die Hauptstelle in Philo de ebrietate p. 382--388 (Mangey).
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Der Offenbarungsglaube der alternden Völker.
alten Kultur die Aufgaben der philoſophiſchen Wiſſenſchaft ganz mit
den Bedürfniſſen des religiös-ſittlichen Lebens. Unter dem gemein-
ſamen Dache des römiſchen Imperiums zuſammenwohnend, paßten
Griechen ihre Gedanken den Vorſtellungen und Symbolen der Orien-
talen über das Leben an, und Egypter, Juden etc. formten noch
kräftiger das griechiſche Bild der Welt um. In der ſo vielfach
unbefriedigten und bedrohten Geſellſchaft jener Tage ſiegte die
Richtung auf das Jenſeitige. „Aus unerforſchlichen Tiefen,“ ſagt
Jakob Burckhardt, „pflegt ſolchen neuen Richtungen ihre weſentliche
Kraft zu kommen, durch bloße Folgerungen aus vorhergegangenen
Zuſtänden ſind ſie nicht zu deduciren.“ — In das religiöſe Leben,
welchem in den inneren Erfahrungen des Willens Gott als Wille,
Perſon zu Perſon, gegeben iſt, finden wir überall den Offen-
barungsglauben verwoben. Die ſchwere Aufgabe einer Analyſis
des Inhaltes der monotheiſtiſchen Religion kann hier auch nicht
angerührt werden; aber das tiefſte Geheimniß dieſer Religion liegt
in der Beziehung der Erfahrung eigener Zuſtände zu dem Wirken
Gottes im Gemüth und Schickſal, hier hat das religiöſe Leben
ſein der allgemeingiltigen Erkenntniß, ja der Vorſtellbarkeit über-
haupt entzogenes Reich. In dieſen Zeiten drang nun, wie aus
unſichtbaren Tiefen, aus dem Untergrund des religiöſen Lebens
der Offenbarungsglaube in die Wiſſenſchaft der Metaphyſik, in der
er immer fremd bleibt und verwirrend wirken muß. So erſchien
in der Metaphyſik ein Satz, der ein ganz neues Prinzip derſelben
würde enthalten haben, läge er nicht überhaupt jenſeit der Grenzen
wiſſenſchaftlichen Denkens. Dieſer Satz behauptete, daß eine
unmittelbare Mittheilung von Gott an die Menſchenſeele ergehe,
daß ſie ſeine Offenbarung unmittelbar vernehme. So wies
Philo, im Zeitalter Chriſti, geſtützt auf die Beweisführung der
Skepſis 1), die Möglichkeit einer wiſſenſchaftlichen Erkenntniß
des Kosmos ab; zugleich machte er gegen die innere Erfahrung,
ähnlich wie ſpäter die Poſitiviſten, geltend: das Auge gewahre
zwar die Objekte außer ſich, doch nicht ſich ſelber, ſo könne auch

1) Die Hauptſtelle in Philo de ebrietate p. 382—388 (Mangey).
21 *
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[323/0346] Der Offenbarungsglaube der alternden Völker. alten Kultur die Aufgaben der philoſophiſchen Wiſſenſchaft ganz mit den Bedürfniſſen des religiös-ſittlichen Lebens. Unter dem gemein- ſamen Dache des römiſchen Imperiums zuſammenwohnend, paßten Griechen ihre Gedanken den Vorſtellungen und Symbolen der Orien- talen über das Leben an, und Egypter, Juden etc. formten noch kräftiger das griechiſche Bild der Welt um. In der ſo vielfach unbefriedigten und bedrohten Geſellſchaft jener Tage ſiegte die Richtung auf das Jenſeitige. „Aus unerforſchlichen Tiefen,“ ſagt Jakob Burckhardt, „pflegt ſolchen neuen Richtungen ihre weſentliche Kraft zu kommen, durch bloße Folgerungen aus vorhergegangenen Zuſtänden ſind ſie nicht zu deduciren.“ — In das religiöſe Leben, welchem in den inneren Erfahrungen des Willens Gott als Wille, Perſon zu Perſon, gegeben iſt, finden wir überall den Offen- barungsglauben verwoben. Die ſchwere Aufgabe einer Analyſis des Inhaltes der monotheiſtiſchen Religion kann hier auch nicht angerührt werden; aber das tiefſte Geheimniß dieſer Religion liegt in der Beziehung der Erfahrung eigener Zuſtände zu dem Wirken Gottes im Gemüth und Schickſal, hier hat das religiöſe Leben ſein der allgemeingiltigen Erkenntniß, ja der Vorſtellbarkeit über- haupt entzogenes Reich. In dieſen Zeiten drang nun, wie aus unſichtbaren Tiefen, aus dem Untergrund des religiöſen Lebens der Offenbarungsglaube in die Wiſſenſchaft der Metaphyſik, in der er immer fremd bleibt und verwirrend wirken muß. So erſchien in der Metaphyſik ein Satz, der ein ganz neues Prinzip derſelben würde enthalten haben, läge er nicht überhaupt jenſeit der Grenzen wiſſenſchaftlichen Denkens. Dieſer Satz behauptete, daß eine unmittelbare Mittheilung von Gott an die Menſchenſeele ergehe, daß ſie ſeine Offenbarung unmittelbar vernehme. So wies Philo, im Zeitalter Chriſti, geſtützt auf die Beweisführung der Skepſis 1), die Möglichkeit einer wiſſenſchaftlichen Erkenntniß des Kosmos ab; zugleich machte er gegen die innere Erfahrung, ähnlich wie ſpäter die Poſitiviſten, geltend: das Auge gewahre zwar die Objekte außer ſich, doch nicht ſich ſelber, ſo könne auch 1) Die Hauptſtelle in Philo de ebrietate p. 382—388 (Mangey). 21 *

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 323. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/346>, abgerufen am 22.11.2024.