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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
die Vernunft nicht sich selber begreifen 1); somit ergab sich ihm
die Nothwendigkeit einer Erleuchtung durch göttliche Offenbarung.
In den Kreisen des Heidenthums vertheidigte ein so glänzender
und wirksamer Schriftsteller wie Plutarch Mittheilungen aus einer
Welt höherer Kräfte. Und Plotin fügte den Glauben an einen
ekstatischen Zustand, in dem die Seele sich eins mit der Gottheit
findet, dem Bestand einer strengeren Metaphysik ein. Ein fremdes
Element überfluthete die Grenzen allgemeingiltiger Wissenschaft:
denn Erfahrungen, die von jedem kontrolirt werden können, sind
nur in den Wahrnehmungen über die Welt und den Thatsachen
des Bewußtseins gegeben. -- Nun entstand auch die emanatistische
Metaphysik, indem die Phantasie, beflügelt von orientalischem
Fabelwesen, das Geheimniß der Nähe und Ferne Gottes zu be-
wältigen rang und es doch nur in der Bilderschrift des Natur-
wissens auszudrücken im Stande war: ein unfruchtbares Zwitter-
gebilde aus der Ehe von Religion und Philosophie, Dichten und
Denken, Orient und Occident: keine Gestalt des Gedankens, mit
welcher eine Geschichte der Metaphysik ernsthaft zu rechnen hätte,
obgleich ihre Nachwirkungen durch das ganze Mittelalter hindurch
bis in die neuere Zeit reichen.

Inmitten dieser geistigen Bewegungen war die alte Kirche
bemüht, den Gehalt der christlichen Erfahrung zu vollem Bewußt-
sein und zu erschöpfender Darstellung in Formeln zu bringen,
sowie einen Beweis der Allgemeingiltigkeit des Christenthums zu
geben, wie er das Korrelat für den Anspruch desselben auf Welt-
herrschaft war. Die Lösung der bezeichneten Aufgabe in den
Schriften der Väter und Deklarationen der Koncilien erfüllt die
Jahrhunderte vom Schluß des apostolischen Zeitalters bis zu Gregor
dem Großen und dem Ende des sechsten Jahrhunderts. Diese
Zeit gehört noch der Kultur der alten Völker, welche zunächst auch
nach dem Untergang des weströmischen Reiches allein wissenschaft-
liche Schriftsteller hervorbrachten. Und zwar konnten die Väter in
einer doppelten Richtung die Lösung ihrer Aufgabe unternehmen. --

1) Philo legum allegor. I p. 62 M.

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
die Vernunft nicht ſich ſelber begreifen 1); ſomit ergab ſich ihm
die Nothwendigkeit einer Erleuchtung durch göttliche Offenbarung.
In den Kreiſen des Heidenthums vertheidigte ein ſo glänzender
und wirkſamer Schriftſteller wie Plutarch Mittheilungen aus einer
Welt höherer Kräfte. Und Plotin fügte den Glauben an einen
ekſtatiſchen Zuſtand, in dem die Seele ſich eins mit der Gottheit
findet, dem Beſtand einer ſtrengeren Metaphyſik ein. Ein fremdes
Element überfluthete die Grenzen allgemeingiltiger Wiſſenſchaft:
denn Erfahrungen, die von jedem kontrolirt werden können, ſind
nur in den Wahrnehmungen über die Welt und den Thatſachen
des Bewußtſeins gegeben. — Nun entſtand auch die emanatiſtiſche
Metaphyſik, indem die Phantaſie, beflügelt von orientaliſchem
Fabelweſen, das Geheimniß der Nähe und Ferne Gottes zu be-
wältigen rang und es doch nur in der Bilderſchrift des Natur-
wiſſens auszudrücken im Stande war: ein unfruchtbares Zwitter-
gebilde aus der Ehe von Religion und Philoſophie, Dichten und
Denken, Orient und Occident: keine Geſtalt des Gedankens, mit
welcher eine Geſchichte der Metaphyſik ernſthaft zu rechnen hätte,
obgleich ihre Nachwirkungen durch das ganze Mittelalter hindurch
bis in die neuere Zeit reichen.

Inmitten dieſer geiſtigen Bewegungen war die alte Kirche
bemüht, den Gehalt der chriſtlichen Erfahrung zu vollem Bewußt-
ſein und zu erſchöpfender Darſtellung in Formeln zu bringen,
ſowie einen Beweis der Allgemeingiltigkeit des Chriſtenthums zu
geben, wie er das Korrelat für den Anſpruch deſſelben auf Welt-
herrſchaft war. Die Löſung der bezeichneten Aufgabe in den
Schriften der Väter und Deklarationen der Koncilien erfüllt die
Jahrhunderte vom Schluß des apoſtoliſchen Zeitalters bis zu Gregor
dem Großen und dem Ende des ſechſten Jahrhunderts. Dieſe
Zeit gehört noch der Kultur der alten Völker, welche zunächſt auch
nach dem Untergang des weſtrömiſchen Reiches allein wiſſenſchaft-
liche Schriftſteller hervorbrachten. Und zwar konnten die Väter in
einer doppelten Richtung die Löſung ihrer Aufgabe unternehmen. —

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[324/0347] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. die Vernunft nicht ſich ſelber begreifen 1); ſomit ergab ſich ihm die Nothwendigkeit einer Erleuchtung durch göttliche Offenbarung. In den Kreiſen des Heidenthums vertheidigte ein ſo glänzender und wirkſamer Schriftſteller wie Plutarch Mittheilungen aus einer Welt höherer Kräfte. Und Plotin fügte den Glauben an einen ekſtatiſchen Zuſtand, in dem die Seele ſich eins mit der Gottheit findet, dem Beſtand einer ſtrengeren Metaphyſik ein. Ein fremdes Element überfluthete die Grenzen allgemeingiltiger Wiſſenſchaft: denn Erfahrungen, die von jedem kontrolirt werden können, ſind nur in den Wahrnehmungen über die Welt und den Thatſachen des Bewußtſeins gegeben. — Nun entſtand auch die emanatiſtiſche Metaphyſik, indem die Phantaſie, beflügelt von orientaliſchem Fabelweſen, das Geheimniß der Nähe und Ferne Gottes zu be- wältigen rang und es doch nur in der Bilderſchrift des Natur- wiſſens auszudrücken im Stande war: ein unfruchtbares Zwitter- gebilde aus der Ehe von Religion und Philoſophie, Dichten und Denken, Orient und Occident: keine Geſtalt des Gedankens, mit welcher eine Geſchichte der Metaphyſik ernſthaft zu rechnen hätte, obgleich ihre Nachwirkungen durch das ganze Mittelalter hindurch bis in die neuere Zeit reichen. Inmitten dieſer geiſtigen Bewegungen war die alte Kirche bemüht, den Gehalt der chriſtlichen Erfahrung zu vollem Bewußt- ſein und zu erſchöpfender Darſtellung in Formeln zu bringen, ſowie einen Beweis der Allgemeingiltigkeit des Chriſtenthums zu geben, wie er das Korrelat für den Anſpruch deſſelben auf Welt- herrſchaft war. Die Löſung der bezeichneten Aufgabe in den Schriften der Väter und Deklarationen der Koncilien erfüllt die Jahrhunderte vom Schluß des apoſtoliſchen Zeitalters bis zu Gregor dem Großen und dem Ende des ſechſten Jahrhunderts. Dieſe Zeit gehört noch der Kultur der alten Völker, welche zunächſt auch nach dem Untergang des weſtrömiſchen Reiches allein wiſſenſchaft- liche Schriftſteller hervorbrachten. Und zwar konnten die Väter in einer doppelten Richtung die Löſung ihrer Aufgabe unternehmen. — 1) Philo legum allegor. I p. 62 M.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 324. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/347>, abgerufen am 22.11.2024.