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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Die Väter.
Sollte die Bedeutung der christlichen Erfahrung und ihres In-
haltes festgestellt werden, so führte das in eine Analysis der That-
sachen des Bewußtseins zurück. Denn im christlichen Bewußtseins-
stande war zuerst eine Geistesverfassung gegeben, welche eine er-
kenntnißtheoretische Grundlegung mit dem positiven Ziele, die
Realität der inneren Welt zu begründen, möglich machte. Und
das Interesse einer wirksamen Vertheidigung des Christenthums
machte eine solche Grundlegung nothwendig. Wie tief die Ge-
dankenarbeit der Väter in dieser Richtung reichte, werden wir an
dem größten derselben feststellen. -- Doch überwog die andere
Richtung. Es ist das tragische Schicksal des Christenthums ge-
wesen, die heiligsten Erfahrungen des Menschenherzens aus der
Stille des Einzellebens heraus und unter die Triebkräfte der welt-
geschichtlichen Massenbewegungen einzuführen, hierdurch aber einen
Mechanismus des Sittlichen und eine hierarchische Heuchelei her-
vorzurufen; auf dem theoretischen Gebiet verfiel es einem nicht
minder schwer auf seiner weiteren Entwicklung lastenden Geschick.
Wenn es den Gehalt seiner Erfahrung zu klarem Bewußtsein
bringen wollte, mußte es ihn in den Vorstellungszusammenhang der
Außenwelt aufnehmen, welchem derselbe nach den Beziehungen von
Raum, Zeit, Substanz und Kausalität eingeordnet wurde. So war die
Entwicklung dieses Gehaltes im Dogma zugleich seine Veräußer-
lichung. War doch auch in dem Offenbarungsglauben die Möglich-
keit gegeben, das Dogma als ein autoritatives System von dem Willen
Gottes ausgehend zu entwickeln, und ein solches System entsprach
dem römischen Geiste, welcher seine Rechtsformeln bis in das Innere
der christlichen Glaubenslehre hineinführte. Aus dem griechischen
Genius entsprang eine andere Art von Veräußerlichung; in den kos-
mischen Begriffen des Logos, der Ausstrahlung aus Gott, der Er-
langung eines Antheils an ihm und an seiner Unsterblichkeit entstand
eine großartige, doch dem Mythus verwandte Symbolik als Sprache
des Christenglaubens. So wirkte nur zu Vieles dahin, daß der Ge-
halt des Christenthums in einem objektiven, von Gott aus ableitenden
System dargestellt wurde. Ein Gegenbild der antiken Metaphysik
entstand. Wir stellen den Zusammenhang, welcher so sich bildete

Die Väter.
Sollte die Bedeutung der chriſtlichen Erfahrung und ihres In-
haltes feſtgeſtellt werden, ſo führte das in eine Analyſis der That-
ſachen des Bewußtſeins zurück. Denn im chriſtlichen Bewußtſeins-
ſtande war zuerſt eine Geiſtesverfaſſung gegeben, welche eine er-
kenntnißtheoretiſche Grundlegung mit dem poſitiven Ziele, die
Realität der inneren Welt zu begründen, möglich machte. Und
das Intereſſe einer wirkſamen Vertheidigung des Chriſtenthums
machte eine ſolche Grundlegung nothwendig. Wie tief die Ge-
dankenarbeit der Väter in dieſer Richtung reichte, werden wir an
dem größten derſelben feſtſtellen. — Doch überwog die andere
Richtung. Es iſt das tragiſche Schickſal des Chriſtenthums ge-
weſen, die heiligſten Erfahrungen des Menſchenherzens aus der
Stille des Einzellebens heraus und unter die Triebkräfte der welt-
geſchichtlichen Maſſenbewegungen einzuführen, hierdurch aber einen
Mechanismus des Sittlichen und eine hierarchiſche Heuchelei her-
vorzurufen; auf dem theoretiſchen Gebiet verfiel es einem nicht
minder ſchwer auf ſeiner weiteren Entwicklung laſtenden Geſchick.
Wenn es den Gehalt ſeiner Erfahrung zu klarem Bewußtſein
bringen wollte, mußte es ihn in den Vorſtellungszuſammenhang der
Außenwelt aufnehmen, welchem derſelbe nach den Beziehungen von
Raum, Zeit, Subſtanz und Kauſalität eingeordnet wurde. So war die
Entwicklung dieſes Gehaltes im Dogma zugleich ſeine Veräußer-
lichung. War doch auch in dem Offenbarungsglauben die Möglich-
keit gegeben, das Dogma als ein autoritatives Syſtem von dem Willen
Gottes ausgehend zu entwickeln, und ein ſolches Syſtem entſprach
dem römiſchen Geiſte, welcher ſeine Rechtsformeln bis in das Innere
der chriſtlichen Glaubenslehre hineinführte. Aus dem griechiſchen
Genius entſprang eine andere Art von Veräußerlichung; in den kos-
miſchen Begriffen des Logos, der Ausſtrahlung aus Gott, der Er-
langung eines Antheils an ihm und an ſeiner Unſterblichkeit entſtand
eine großartige, doch dem Mythus verwandte Symbolik als Sprache
des Chriſtenglaubens. So wirkte nur zu Vieles dahin, daß der Ge-
halt des Chriſtenthums in einem objektiven, von Gott aus ableitenden
Syſtem dargeſtellt wurde. Ein Gegenbild der antiken Metaphyſik
entſtand. Wir ſtellen den Zuſammenhang, welcher ſo ſich bildete

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[325/0348] Die Väter. Sollte die Bedeutung der chriſtlichen Erfahrung und ihres In- haltes feſtgeſtellt werden, ſo führte das in eine Analyſis der That- ſachen des Bewußtſeins zurück. Denn im chriſtlichen Bewußtſeins- ſtande war zuerſt eine Geiſtesverfaſſung gegeben, welche eine er- kenntnißtheoretiſche Grundlegung mit dem poſitiven Ziele, die Realität der inneren Welt zu begründen, möglich machte. Und das Intereſſe einer wirkſamen Vertheidigung des Chriſtenthums machte eine ſolche Grundlegung nothwendig. Wie tief die Ge- dankenarbeit der Väter in dieſer Richtung reichte, werden wir an dem größten derſelben feſtſtellen. — Doch überwog die andere Richtung. Es iſt das tragiſche Schickſal des Chriſtenthums ge- weſen, die heiligſten Erfahrungen des Menſchenherzens aus der Stille des Einzellebens heraus und unter die Triebkräfte der welt- geſchichtlichen Maſſenbewegungen einzuführen, hierdurch aber einen Mechanismus des Sittlichen und eine hierarchiſche Heuchelei her- vorzurufen; auf dem theoretiſchen Gebiet verfiel es einem nicht minder ſchwer auf ſeiner weiteren Entwicklung laſtenden Geſchick. Wenn es den Gehalt ſeiner Erfahrung zu klarem Bewußtſein bringen wollte, mußte es ihn in den Vorſtellungszuſammenhang der Außenwelt aufnehmen, welchem derſelbe nach den Beziehungen von Raum, Zeit, Subſtanz und Kauſalität eingeordnet wurde. So war die Entwicklung dieſes Gehaltes im Dogma zugleich ſeine Veräußer- lichung. War doch auch in dem Offenbarungsglauben die Möglich- keit gegeben, das Dogma als ein autoritatives Syſtem von dem Willen Gottes ausgehend zu entwickeln, und ein ſolches Syſtem entſprach dem römiſchen Geiſte, welcher ſeine Rechtsformeln bis in das Innere der chriſtlichen Glaubenslehre hineinführte. Aus dem griechiſchen Genius entſprang eine andere Art von Veräußerlichung; in den kos- miſchen Begriffen des Logos, der Ausſtrahlung aus Gott, der Er- langung eines Antheils an ihm und an ſeiner Unſterblichkeit entſtand eine großartige, doch dem Mythus verwandte Symbolik als Sprache des Chriſtenglaubens. So wirkte nur zu Vieles dahin, daß der Ge- halt des Chriſtenthums in einem objektiven, von Gott aus ableitenden Syſtem dargeſtellt wurde. Ein Gegenbild der antiken Metaphyſik entſtand. Wir ſtellen den Zuſammenhang, welcher ſo ſich bildete

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 325. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/348>, abgerufen am 22.11.2024.