Ausgangspunkt des Augustinus in der Selbstbesinnung.
meinen Augen sich darstellt, Welt1). Der Ausdruck Welt be- deutet ihm sonach ein Phänomen des Bewußtseins. Und der Fortgang in der Erkenntniß der Phänomenalität der Welt, welcher in Augustinus vorliegt, ist dadurch bedingt, daß ihm die gesammte Außenwelt nur Interesse hat, sofern sie für das Seelen- leben etwas bedeutet.
Von dieser Selbstgewißheit des Ich aus ist zunächst die Widerlegung der Akademie geschrieben. In die Tiefen des Inneren führen alsdann die Soliloquien, welche dort die Un- sterblichkeit der Seele und die Existenz Gottes entdecken: eine jener Meditationen, deren Form schon das mit sich selber beschäftigte Seelenleben gewahren läßt. Dann sucht der Dialog über den freien Willen in demselben Inneren die Entscheidung über eine der größten Streitfragen der Zeit. Und in der Schrift über die wahre Religion wird der Glaubensinhalt von der Selbstgewißheit des Subjektes aus entwickelt, das zweifelnd, denkend, lebend seiner inne wird. Ueberall ist hier der Ausgangspunkt derselbe: er liegt in der Entdeckung der Realität im eigenen Inneren. "Du, der Du Dich erkennen willst, weißt Du, daß Du bist?" "Ich weiß es." "Und woher?" "Ich weiß es nicht." "Fühlst Du Dich einfach oder vielfach?" "Ich weiß es nicht." "Weißt Du, daß Du Dich bewegst?" "Ich weiß es nicht." "Weißt Du, daß Du denkst?" "Ich weiß es." "Also ist es wahr, daß Du denkst?" "Es ist wahr." Und zwar knüpft Augustinus, wie später Descartes, die Selbstgewißheit an den Zweifel selber. In demselben werde ich inne, daß ich denke, mich erinnere. Dieses Innewerden umfaßt nicht nur das Denken, sondern die Totalität des Menschen; als Leben bezeichnet er mit einem tiefen, wahren Ausdruck den Gegenstand der Selbstgewiß- heit. Auch das reifste Werk des Augustinus, die Schrift "vom Gottesstaate," enthält denselben Gedanken, in vollendetem Ausdruck. Daß wir sind, daß wir wissen, daß wir unser Sein und Wissen lieben, ist uns gewiß. "Denn dies berühren wir nicht, wie die
1) Augustinus contra Academ. III c. 11.
Ausgangspunkt des Auguſtinus in der Selbſtbeſinnung.
meinen Augen ſich darſtellt, Welt1). Der Ausdruck Welt be- deutet ihm ſonach ein Phänomen des Bewußtſeins. Und der Fortgang in der Erkenntniß der Phänomenalität der Welt, welcher in Auguſtinus vorliegt, iſt dadurch bedingt, daß ihm die geſammte Außenwelt nur Intereſſe hat, ſofern ſie für das Seelen- leben etwas bedeutet.
Von dieſer Selbſtgewißheit des Ich aus iſt zunächſt die Widerlegung der Akademie geſchrieben. In die Tiefen des Inneren führen alsdann die Soliloquien, welche dort die Un- ſterblichkeit der Seele und die Exiſtenz Gottes entdecken: eine jener Meditationen, deren Form ſchon das mit ſich ſelber beſchäftigte Seelenleben gewahren läßt. Dann ſucht der Dialog über den freien Willen in demſelben Inneren die Entſcheidung über eine der größten Streitfragen der Zeit. Und in der Schrift über die wahre Religion wird der Glaubensinhalt von der Selbſtgewißheit des Subjektes aus entwickelt, das zweifelnd, denkend, lebend ſeiner inne wird. Ueberall iſt hier der Ausgangspunkt derſelbe: er liegt in der Entdeckung der Realität im eigenen Inneren. „Du, der Du Dich erkennen willſt, weißt Du, daß Du biſt?“ „Ich weiß es.“ „Und woher?“ „Ich weiß es nicht.“ „Fühlſt Du Dich einfach oder vielfach?“ „Ich weiß es nicht.“ „Weißt Du, daß Du Dich bewegſt?“ „Ich weiß es nicht.“ „Weißt Du, daß Du denkſt?“ „Ich weiß es.“ „Alſo iſt es wahr, daß Du denkſt?“ „Es iſt wahr.“ Und zwar knüpft Auguſtinus, wie ſpäter Descartes, die Selbſtgewißheit an den Zweifel ſelber. In demſelben werde ich inne, daß ich denke, mich erinnere. Dieſes Innewerden umfaßt nicht nur das Denken, ſondern die Totalität des Menſchen; als Leben bezeichnet er mit einem tiefen, wahren Ausdruck den Gegenſtand der Selbſtgewiß- heit. Auch das reifſte Werk des Auguſtinus, die Schrift „vom Gottesſtaate,“ enthält denſelben Gedanken, in vollendetem Ausdruck. Daß wir ſind, daß wir wiſſen, daß wir unſer Sein und Wiſſen lieben, iſt uns gewiß. „Denn dies berühren wir nicht, wie die
1) Auguſtinus contra Academ. III c. 11.
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Ausgangspunkt des Auguſtinus in der Selbſtbeſinnung.
meinen Augen ſich darſtellt, Welt 1). Der Ausdruck Welt be-
deutet ihm ſonach ein Phänomen des Bewußtſeins. Und
der Fortgang in der Erkenntniß der Phänomenalität der Welt,
welcher in Auguſtinus vorliegt, iſt dadurch bedingt, daß ihm die
geſammte Außenwelt nur Intereſſe hat, ſofern ſie für das Seelen-
leben etwas bedeutet.
Von dieſer Selbſtgewißheit des Ich aus iſt zunächſt die
Widerlegung der Akademie geſchrieben. In die Tiefen des
Inneren führen alsdann die Soliloquien, welche dort die Un-
ſterblichkeit der Seele und die Exiſtenz Gottes entdecken: eine
jener Meditationen, deren Form ſchon das mit ſich ſelber
beſchäftigte Seelenleben gewahren läßt. Dann ſucht der Dialog
über den freien Willen in demſelben Inneren die Entſcheidung
über eine der größten Streitfragen der Zeit. Und in der
Schrift über die wahre Religion wird der Glaubensinhalt
von der Selbſtgewißheit des Subjektes aus entwickelt, das
zweifelnd, denkend, lebend ſeiner inne wird. Ueberall iſt hier der
Ausgangspunkt derſelbe: er liegt in der Entdeckung der
Realität im eigenen Inneren. „Du, der Du Dich erkennen
willſt, weißt Du, daß Du biſt?“ „Ich weiß es.“ „Und woher?“
„Ich weiß es nicht.“ „Fühlſt Du Dich einfach oder vielfach?“
„Ich weiß es nicht.“ „Weißt Du, daß Du Dich bewegſt?“ „Ich
weiß es nicht.“ „Weißt Du, daß Du denkſt?“ „Ich weiß es.“
„Alſo iſt es wahr, daß Du denkſt?“ „Es iſt wahr.“ Und zwar
knüpft Auguſtinus, wie ſpäter Descartes, die Selbſtgewißheit an
den Zweifel ſelber. In demſelben werde ich inne, daß ich denke,
mich erinnere. Dieſes Innewerden umfaßt nicht nur das Denken,
ſondern die Totalität des Menſchen; als Leben bezeichnet er mit
einem tiefen, wahren Ausdruck den Gegenſtand der Selbſtgewiß-
heit. Auch das reifſte Werk des Auguſtinus, die Schrift „vom
Gottesſtaate,“ enthält denſelben Gedanken, in vollendetem Ausdruck.
Daß wir ſind, daß wir wiſſen, daß wir unſer Sein und Wiſſen
lieben, iſt uns gewiß. „Denn dies berühren wir nicht, wie die
1) Auguſtinus contra Academ. III c. 11.
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 327. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/350>, abgerufen am 22.11.2024.
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