Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Zweites Buch. Dritter Abschnitt. äußeren Objekte, durch irgend ein Sinnesorgan unseres Körpers,wie die Farben durch den Gesichtssinn, die Töne durch das Gehör etc., sondern unabhängig von täuschenden Phantasievorstellungen oder Einbildungen ist es mir ganz gewiß, daß ich bin, davon weiß und das im Gefühl der Liebe umfasse. Auch fürchte ich in Bezug auf diese Wahrheiten die Gründe der akademischen Skeptiker nicht, welche die Möglichkeit aussprechen, daß ich mich täusche. Denn wenn ich mich täusche, so bin. ich. Wer nicht ist, kann sich nicht täuschen 1)." Die Selbstbesinnung, welche hier, nach verwandten An- 1) Augustinus de civ. Dei XI c. 26. 2) Vgl. S. 224. 321. 3) Diese Eintheilung der philosophischen Probleme benutzt Augustinus de civ. Dei XI c. 25 vgl. VIII c. 6--8. 4) Ebds. XI c. 25.
Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. äußeren Objekte, durch irgend ein Sinnesorgan unſeres Körpers,wie die Farben durch den Geſichtsſinn, die Töne durch das Gehör etc., ſondern unabhängig von täuſchenden Phantaſievorſtellungen oder Einbildungen iſt es mir ganz gewiß, daß ich bin, davon weiß und das im Gefühl der Liebe umfaſſe. Auch fürchte ich in Bezug auf dieſe Wahrheiten die Gründe der akademiſchen Skeptiker nicht, welche die Möglichkeit ausſprechen, daß ich mich täuſche. Denn wenn ich mich täuſche, ſo bin. ich. Wer nicht iſt, kann ſich nicht täuſchen 1).“ Die Selbſtbeſinnung, welche hier, nach verwandten An- 1) Auguſtinus de civ. Dei XI c. 26. 2) Vgl. S. 224. 321. 3) Dieſe Eintheilung der philoſophiſchen Probleme benutzt Auguſtinus de civ. Dei XI c. 25 vgl. VIII c. 6—8. 4) Ebdſ. XI c. 25.
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Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
äußeren Objekte, durch irgend ein Sinnesorgan unſeres Körpers,
wie die Farben durch den Geſichtsſinn, die Töne durch das Gehör etc.,
ſondern unabhängig von täuſchenden Phantaſievorſtellungen oder
Einbildungen iſt es mir ganz gewiß, daß ich bin, davon weiß
und das im Gefühl der Liebe umfaſſe. Auch fürchte ich in Bezug
auf dieſe Wahrheiten die Gründe der akademiſchen Skeptiker nicht,
welche die Möglichkeit ausſprechen, daß ich mich täuſche. Denn
wenn ich mich täuſche, ſo bin. ich. Wer nicht iſt, kann ſich nicht
täuſchen 1).“
Die Selbſtbeſinnung, welche hier, nach verwandten An-
ſätzen der Neuplatoniker, in Auguſtinus auftritt, iſt von der des
Socrates und der Sokratiker durchaus verſchieden. Hier endlich
geht im Selbſtbewußtſein eine mächtige Realität auf, und dieſe
Erkenntniß verſchlingt alles Intereſſe an dem Studium des
Kosmos. Dieſe Selbſtbeſinnung iſt daher nicht Rückgang auf
den Erkenntnißgrund des Wiſſens allein, und aus ihr entſpringt
ſomit nicht nur Wiſſenſchaftslehre 2). In dieſer Beſinnung geht dem
Menſchen das Weſen ſeiner Selbſt auf, der Ueberzeugung von
der Realität der Welt wird wenigſtens ihre Stelle beſtimmt, vor
Allem wird in ihr das Weſen Gottes aufgefaßt, wie denn ſogar
das Geheimniß der Dreieinigkeit durch ſie halb entſchleiert zu werden
ſcheint. Die drei Fragen der alten Logik, Phyſik und Ethik: was iſt
der Grund der Gewißheit im Denken, was die Urſache der Welt
und worin beſteht das höchſte Gut 3)? führen auf Eine gemeinſame
Bedingung, unter welcher das Wiſſen, die Natur und das prak-
tiſche Leben ſtehen, auf die Idee Gottes 4); zwei von dieſen Fragen
entſtehen aber in der Selbſtbeſinnung und finden in ihr Beant-
wortung. Und zwar gelangt dieſe Selbſtbeſinnung erſt zu ihrem
vollen Ergebniß, wo der religiös-ſittliche Vorgang des Glaubens
alle Tiefen der Seele aufgeſchloſſen hat. Das berühmte crede ut
1) Auguſtinus de civ. Dei XI c. 26.
2) Vgl. S. 224. 321.
3) Dieſe Eintheilung der philoſophiſchen Probleme benutzt Auguſtinus
de civ. Dei XI c. 25 vgl. VIII c. 6—8.
4) Ebdſ. XI c. 25.
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