elemente zerlegt worden waren, auf ihre Grundlagen in der Totalität des Seelenlebens zurückgeführt; hierfür werden z. B. seine Untersuchungen über die Zeit immer musterhaft bleiben 1).
Aber dieser genialen Gewalt der Vergegenwärtigung war sein Vermögen der Zergliederung nicht gewachsen. Kann das Wun- der nehmen? Dieses naturmächtige Gemüth, dem nichts als Gott genugthun konnte, war nicht zu gewöhnen, der Zerlegung der Begriffe ein Leben zu widmen. Zwar vermochte Augustinus, wie keiner der Jahrhunderte nach Paulus, die Gedankenmächte, die er vorfand, in großem Sinne zu schätzen, und in Folge hiervon begriff er, umgeben von den Trümmern der antiken Spekula- tion, richtig die Wahrheit des griechischen Skepticismus gegenüber der objektiven Weltansicht. Er vermochte dann, den entscheidenden Punkt zu finden, in welchem die christliche Erfahrung den antiken Skepticismus aufhebt, und so konnte er einen dem kritischen ver- wandten Standpunkt erfassen. Aber ihn durchzuführen vermochte er nicht; er entbehrte der analytischen Kraft, ihm die Wissenschaft der äußeren Wirklichkeit unterzuordnen, die der inneren Wirk- lichkeit von ihm aus aufzubauen sowie die falschen Begriffe aufzulöfen, welche beanspruchen, die geistigen und die Natur- thatsachen in einem objektiven Ganzen zusammenzuhalten. Was so entstand, war kein System. Man wird Augustinus in seiner wahren Größe als Schriftsteller erst erkennen, wenn man den psychologischen Zusammenhang, welcher in ihm ist, entwickelt und auf den systematischen verzichtet, welcher nicht bei ihm zu finden ist.
Und weiter als Augustinus hat kein mittelalterlicher Mensch gesehen. So bildete sich anstatt einer erkenntnißtheoretisch begrün- deten Darstellung der religiösen Erfahrung und ihres Aus- druckes in Vorstellungen eine objektive Systematik. Es entstand in der Theologie eine zweite Klasse von Metaphysik, tiefer im Ausgangspunkt, aber gemäß ihrem Verhältniß zu den praktischen Lebensaufgaben in unreiner Mischung mit positiven, in Autorität gegründeten Bestandtheilen: eine in jeder Rücksicht un-
1) Augustinus confess. XI c. 11--30.
Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
elemente zerlegt worden waren, auf ihre Grundlagen in der Totalität des Seelenlebens zurückgeführt; hierfür werden z. B. ſeine Unterſuchungen über die Zeit immer muſterhaft bleiben 1).
Aber dieſer genialen Gewalt der Vergegenwärtigung war ſein Vermögen der Zergliederung nicht gewachſen. Kann das Wun- der nehmen? Dieſes naturmächtige Gemüth, dem nichts als Gott genugthun konnte, war nicht zu gewöhnen, der Zerlegung der Begriffe ein Leben zu widmen. Zwar vermochte Auguſtinus, wie keiner der Jahrhunderte nach Paulus, die Gedankenmächte, die er vorfand, in großem Sinne zu ſchätzen, und in Folge hiervon begriff er, umgeben von den Trümmern der antiken Spekula- tion, richtig die Wahrheit des griechiſchen Skepticismus gegenüber der objektiven Weltanſicht. Er vermochte dann, den entſcheidenden Punkt zu finden, in welchem die chriſtliche Erfahrung den antiken Skepticismus aufhebt, und ſo konnte er einen dem kritiſchen ver- wandten Standpunkt erfaſſen. Aber ihn durchzuführen vermochte er nicht; er entbehrte der analytiſchen Kraft, ihm die Wiſſenſchaft der äußeren Wirklichkeit unterzuordnen, die der inneren Wirk- lichkeit von ihm aus aufzubauen ſowie die falſchen Begriffe aufzulöfen, welche beanſpruchen, die geiſtigen und die Natur- thatſachen in einem objektiven Ganzen zuſammenzuhalten. Was ſo entſtand, war kein Syſtem. Man wird Auguſtinus in ſeiner wahren Größe als Schriftſteller erſt erkennen, wenn man den pſychologiſchen Zuſammenhang, welcher in ihm iſt, entwickelt und auf den ſyſtematiſchen verzichtet, welcher nicht bei ihm zu finden iſt.
Und weiter als Auguſtinus hat kein mittelalterlicher Menſch geſehen. So bildete ſich anſtatt einer erkenntnißtheoretiſch begrün- deten Darſtellung der religiöſen Erfahrung und ihres Aus- druckes in Vorſtellungen eine objektive Syſtematik. Es entſtand in der Theologie eine zweite Klaſſe von Metaphyſik, tiefer im Ausgangspunkt, aber gemäß ihrem Verhältniß zu den praktiſchen Lebensaufgaben in unreiner Miſchung mit poſitiven, in Autorität gegründeten Beſtandtheilen: eine in jeder Rückſicht un-
1) Auguſtinus confess. XI c. 11—30.
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Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
elemente zerlegt worden waren, auf ihre Grundlagen in der
Totalität des Seelenlebens zurückgeführt; hierfür werden z. B.
ſeine Unterſuchungen über die Zeit immer muſterhaft bleiben 1).
Aber dieſer genialen Gewalt der Vergegenwärtigung war ſein
Vermögen der Zergliederung nicht gewachſen. Kann das Wun-
der nehmen? Dieſes naturmächtige Gemüth, dem nichts als Gott
genugthun konnte, war nicht zu gewöhnen, der Zerlegung der
Begriffe ein Leben zu widmen. Zwar vermochte Auguſtinus, wie
keiner der Jahrhunderte nach Paulus, die Gedankenmächte, die er
vorfand, in großem Sinne zu ſchätzen, und in Folge hiervon
begriff er, umgeben von den Trümmern der antiken Spekula-
tion, richtig die Wahrheit des griechiſchen Skepticismus gegenüber
der objektiven Weltanſicht. Er vermochte dann, den entſcheidenden
Punkt zu finden, in welchem die chriſtliche Erfahrung den antiken
Skepticismus aufhebt, und ſo konnte er einen dem kritiſchen ver-
wandten Standpunkt erfaſſen. Aber ihn durchzuführen vermochte
er nicht; er entbehrte der analytiſchen Kraft, ihm die Wiſſenſchaft
der äußeren Wirklichkeit unterzuordnen, die der inneren Wirk-
lichkeit von ihm aus aufzubauen ſowie die falſchen Begriffe
aufzulöfen, welche beanſpruchen, die geiſtigen und die Natur-
thatſachen in einem objektiven Ganzen zuſammenzuhalten. Was
ſo entſtand, war kein Syſtem. Man wird Auguſtinus in ſeiner
wahren Größe als Schriftſteller erſt erkennen, wenn man den
pſychologiſchen Zuſammenhang, welcher in ihm iſt, entwickelt und
auf den ſyſtematiſchen verzichtet, welcher nicht bei ihm zu finden iſt.
Und weiter als Auguſtinus hat kein mittelalterlicher Menſch
geſehen. So bildete ſich anſtatt einer erkenntnißtheoretiſch begrün-
deten Darſtellung der religiöſen Erfahrung und ihres Aus-
druckes in Vorſtellungen eine objektive Syſtematik. Es entſtand
in der Theologie eine zweite Klaſſe von Metaphyſik,
tiefer im Ausgangspunkt, aber gemäß ihrem Verhältniß zu den
praktiſchen Lebensaufgaben in unreiner Miſchung mit poſitiven, in
Autorität gegründeten Beſtandtheilen: eine in jeder Rückſicht un-
1) Auguſtinus confess. XI c. 11—30.
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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/359>, abgerufen am 22.11.2024.
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