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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Fortschritt der Metaphysik bei den romanisch-germanischen Völkern.
romanischen Völker im Kampfe mit dem vom Islam mächtig er-
regten Morgenlande. Der politische und militärische Gegensatz
wurde zugleich als ein solcher der beiden großen Weltreligionen
empfunden, die um die Herrschaft rangen, und setzte sich bis in
das Gebiet der Metaphysik fort. Die Metaphysiker der Christen-
heit fanden sich scharfsinnigen Systemen gegenüber, welche aus
dem Islam hervorgegangen und dem Christenthum innerlich
feindselig waren. Dies Alles gab der Metaphysik der neueren
europäischen Völker ein Uebergewicht über die der Alten in zwei
Punkten.

Die veränderte Lage ermöglichte den Metaphysikern einerseits,
zu einer Abstraktion fortzugehen, welche den Griechen in ihrem
natürlichen nationalen Wachsthum nicht möglich war. Sie ge-
langten zu Abstraktionen äußersten Grades. Denn die
Metaphysik so gut als die Religionswahrheiten, Rechtssätze und
politischen Theorien der Vergangenheit wurden nunmehr einer
Reflexion unterworfen, welche trotz der bittersten Mängel in der
Erkenntniß und Auffassung des Geschichtlichen doch die Reste
dieser Vergangenheit als Stoff vor sich hatte. Und zwar war
die metaphysische Reflexion in Bezug auf die Frage, welche Be-
weise vor dem Verstande sich zu behaupten vermöchten und welche
Begriffe in verstandesmäßige Elemente aufgelöst werden könnten,
zunächst von der kirchlichen Autorität nicht gebunden. Wie ver-
hängnißvoll auch für die nur in der Unabhängigkeit gedeihende
Philosophie der Einfluß kirchlicher Vorstellungen und kirchlicher
Macht auf die Gemüther der mittelalterlichen Menschen war:
diese Frage, was an den gegebenen Inhalten überlieferter Meta-
physik und geltenden Glaubens dem Verstande entsprechend und
zugänglich sei, war noch von der Kirche freigelassen.

Andrerseits ermöglichte die veränderte Lage den Metaphysikern,
ihr System, welches aus der wissenschaftlichen Erforschung der
Natur hervorgegangen war, auf die geschichtliche Welt aus-
zudehnen. Diese breitete sich nun als eine umfangreiche Realität
vor ihren Blicken aus. Sie stand vermittelst der christlichen
Wissenschaft mit den tiefsten Prinzipien der metaphysischen Welt

Fortſchritt der Metaphyſik bei den romaniſch-germaniſchen Völkern.
romaniſchen Völker im Kampfe mit dem vom Islam mächtig er-
regten Morgenlande. Der politiſche und militäriſche Gegenſatz
wurde zugleich als ein ſolcher der beiden großen Weltreligionen
empfunden, die um die Herrſchaft rangen, und ſetzte ſich bis in
das Gebiet der Metaphyſik fort. Die Metaphyſiker der Chriſten-
heit fanden ſich ſcharfſinnigen Syſtemen gegenüber, welche aus
dem Islam hervorgegangen und dem Chriſtenthum innerlich
feindſelig waren. Dies Alles gab der Metaphyſik der neueren
europäiſchen Völker ein Uebergewicht über die der Alten in zwei
Punkten.

Die veränderte Lage ermöglichte den Metaphyſikern einerſeits,
zu einer Abſtraktion fortzugehen, welche den Griechen in ihrem
natürlichen nationalen Wachsthum nicht möglich war. Sie ge-
langten zu Abſtraktionen äußerſten Grades. Denn die
Metaphyſik ſo gut als die Religionswahrheiten, Rechtsſätze und
politiſchen Theorien der Vergangenheit wurden nunmehr einer
Reflexion unterworfen, welche trotz der bitterſten Mängel in der
Erkenntniß und Auffaſſung des Geſchichtlichen doch die Reſte
dieſer Vergangenheit als Stoff vor ſich hatte. Und zwar war
die metaphyſiſche Reflexion in Bezug auf die Frage, welche Be-
weiſe vor dem Verſtande ſich zu behaupten vermöchten und welche
Begriffe in verſtandesmäßige Elemente aufgelöſt werden könnten,
zunächſt von der kirchlichen Autorität nicht gebunden. Wie ver-
hängnißvoll auch für die nur in der Unabhängigkeit gedeihende
Philoſophie der Einfluß kirchlicher Vorſtellungen und kirchlicher
Macht auf die Gemüther der mittelalterlichen Menſchen war:
dieſe Frage, was an den gegebenen Inhalten überlieferter Meta-
phyſik und geltenden Glaubens dem Verſtande entſprechend und
zugänglich ſei, war noch von der Kirche freigelaſſen.

Andrerſeits ermöglichte die veränderte Lage den Metaphyſikern,
ihr Syſtem, welches aus der wiſſenſchaftlichen Erforſchung der
Natur hervorgegangen war, auf die geſchichtliche Welt aus-
zudehnen. Dieſe breitete ſich nun als eine umfangreiche Realität
vor ihren Blicken aus. Sie ſtand vermittelſt der chriſtlichen
Wiſſenſchaft mit den tiefſten Prinzipien der metaphyſiſchen Welt

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[341/0364] Fortſchritt der Metaphyſik bei den romaniſch-germaniſchen Völkern. romaniſchen Völker im Kampfe mit dem vom Islam mächtig er- regten Morgenlande. Der politiſche und militäriſche Gegenſatz wurde zugleich als ein ſolcher der beiden großen Weltreligionen empfunden, die um die Herrſchaft rangen, und ſetzte ſich bis in das Gebiet der Metaphyſik fort. Die Metaphyſiker der Chriſten- heit fanden ſich ſcharfſinnigen Syſtemen gegenüber, welche aus dem Islam hervorgegangen und dem Chriſtenthum innerlich feindſelig waren. Dies Alles gab der Metaphyſik der neueren europäiſchen Völker ein Uebergewicht über die der Alten in zwei Punkten. Die veränderte Lage ermöglichte den Metaphyſikern einerſeits, zu einer Abſtraktion fortzugehen, welche den Griechen in ihrem natürlichen nationalen Wachsthum nicht möglich war. Sie ge- langten zu Abſtraktionen äußerſten Grades. Denn die Metaphyſik ſo gut als die Religionswahrheiten, Rechtsſätze und politiſchen Theorien der Vergangenheit wurden nunmehr einer Reflexion unterworfen, welche trotz der bitterſten Mängel in der Erkenntniß und Auffaſſung des Geſchichtlichen doch die Reſte dieſer Vergangenheit als Stoff vor ſich hatte. Und zwar war die metaphyſiſche Reflexion in Bezug auf die Frage, welche Be- weiſe vor dem Verſtande ſich zu behaupten vermöchten und welche Begriffe in verſtandesmäßige Elemente aufgelöſt werden könnten, zunächſt von der kirchlichen Autorität nicht gebunden. Wie ver- hängnißvoll auch für die nur in der Unabhängigkeit gedeihende Philoſophie der Einfluß kirchlicher Vorſtellungen und kirchlicher Macht auf die Gemüther der mittelalterlichen Menſchen war: dieſe Frage, was an den gegebenen Inhalten überlieferter Meta- phyſik und geltenden Glaubens dem Verſtande entſprechend und zugänglich ſei, war noch von der Kirche freigelaſſen. Andrerſeits ermöglichte die veränderte Lage den Metaphyſikern, ihr Syſtem, welches aus der wiſſenſchaftlichen Erforſchung der Natur hervorgegangen war, auf die geſchichtliche Welt aus- zudehnen. Dieſe breitete ſich nun als eine umfangreiche Realität vor ihren Blicken aus. Sie ſtand vermittelſt der chriſtlichen Wiſſenſchaft mit den tiefſten Prinzipien der metaphyſiſchen Welt

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 341. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/364>, abgerufen am 24.11.2024.