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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
in einer inneren Verbindung und bildete vermöge der Beziehung
zu diesen Prinzipien ein in sich zusammenhängendes Ganges. Zu-
gleich sonderte der christliche Dualismus von Geist und Fleisch
schärfer von der ganzen Natur dieses Reich des Geistes, als einen
in dem Transscendenten begründeten Zusammenhang. Die mittel-
alterliche Metaphysik hat so eine Erweiterung erfahren, durch
welche erst die geistigen Thatsachen und die geschichtlich-gesell-
schaftliche Wirklichkeit als ein der Natur und Naturerkenntniß
ebenbürtiges Glied ihr eingeordnet wurden.

Zum zweiten Male begann so die Gedankenarbeit der
Metaphysik. Der Wille zu erkennen fuhr fort, die Subjekte, deren
Thun und Eigenschaften in Natur, Selbsterfahrung und Ge-
schichte sich offenbaren, mit dem Gedanken durchdringen zu wollen,
und das Leben, welches diesem Willen der Erkenntniß vorlag,
reichte nun in Tiefen, welche der metaphysischen Besinnung des Alter-
thums nicht erreichbar gewesen waren. Es liegt außerhalb des
Kreises unserer Erörterung zu betrachten, wie die metaphysische
Gedankenarbeit Trinität, Gottmenschheit in klare und beweisbare
Bestandtheile aufzulösen den Versuch machte und die Unlöslichkeit
des christlichen Dogma für den Verstand schließlich erkennen mußte.
Aber der menschliche Geist erfuhr ferner zum zweiten Male, daß
überhaupt ein natürliches metaphysisches System unmöglich sei.
Die Metaphysik schmolz vor der Verstandeskritik zusammen wie
Schnee bei steigender Sonnenwärme. Und so endigte das zweite
metaphysische Stadium in dieser Rücksicht wie das erste, so viel
inhaltvoller auch der Rückstand war, den es zurückließ.

Dieser Vorgang gestattet, wieder tiefer in das Wesen der
Metaphysik sowie in die Unmöglichkeit ihres dauernden Be-
standes
zu blicken; denn was die großen inhaltlichen Thatsachen
des Geistes in ihrem Wesen enthalten, sagt uns nur die Geschichte.
Die mittelalterliche Metaphysik schloß eine Erweiterung der Welt-
anschauung in sich, welche in gewissen Grenzen noch heute fort-
besteht. Sie enthielt ein tieferes Seelenleben, als das des Alter-
thums gewesen war. Und je angestrengter sie sich bemühte, was nun
innerhalb des Horizontes der metaphysischen Besinnung sich befand,

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
in einer inneren Verbindung und bildete vermöge der Beziehung
zu dieſen Prinzipien ein in ſich zuſammenhängendes Ganges. Zu-
gleich ſonderte der chriſtliche Dualismus von Geiſt und Fleiſch
ſchärfer von der ganzen Natur dieſes Reich des Geiſtes, als einen
in dem Transſcendenten begründeten Zuſammenhang. Die mittel-
alterliche Metaphyſik hat ſo eine Erweiterung erfahren, durch
welche erſt die geiſtigen Thatſachen und die geſchichtlich-geſell-
ſchaftliche Wirklichkeit als ein der Natur und Naturerkenntniß
ebenbürtiges Glied ihr eingeordnet wurden.

Zum zweiten Male begann ſo die Gedankenarbeit der
Metaphyſik. Der Wille zu erkennen fuhr fort, die Subjekte, deren
Thun und Eigenſchaften in Natur, Selbſterfahrung und Ge-
ſchichte ſich offenbaren, mit dem Gedanken durchdringen zu wollen,
und das Leben, welches dieſem Willen der Erkenntniß vorlag,
reichte nun in Tiefen, welche der metaphyſiſchen Beſinnung des Alter-
thums nicht erreichbar geweſen waren. Es liegt außerhalb des
Kreiſes unſerer Erörterung zu betrachten, wie die metaphyſiſche
Gedankenarbeit Trinität, Gottmenſchheit in klare und beweisbare
Beſtandtheile aufzulöſen den Verſuch machte und die Unlöslichkeit
des chriſtlichen Dogma für den Verſtand ſchließlich erkennen mußte.
Aber der menſchliche Geiſt erfuhr ferner zum zweiten Male, daß
überhaupt ein natürliches metaphyſiſches Syſtem unmöglich ſei.
Die Metaphyſik ſchmolz vor der Verſtandeskritik zuſammen wie
Schnee bei ſteigender Sonnenwärme. Und ſo endigte das zweite
metaphyſiſche Stadium in dieſer Rückſicht wie das erſte, ſo viel
inhaltvoller auch der Rückſtand war, den es zurückließ.

Dieſer Vorgang geſtattet, wieder tiefer in das Weſen der
Metaphyſik ſowie in die Unmöglichkeit ihres dauernden Be-
ſtandes
zu blicken; denn was die großen inhaltlichen Thatſachen
des Geiſtes in ihrem Weſen enthalten, ſagt uns nur die Geſchichte.
Die mittelalterliche Metaphyſik ſchloß eine Erweiterung der Welt-
anſchauung in ſich, welche in gewiſſen Grenzen noch heute fort-
beſteht. Sie enthielt ein tieferes Seelenleben, als das des Alter-
thums geweſen war. Und je angeſtrengter ſie ſich bemühte, was nun
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[342/0365] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. in einer inneren Verbindung und bildete vermöge der Beziehung zu dieſen Prinzipien ein in ſich zuſammenhängendes Ganges. Zu- gleich ſonderte der chriſtliche Dualismus von Geiſt und Fleiſch ſchärfer von der ganzen Natur dieſes Reich des Geiſtes, als einen in dem Transſcendenten begründeten Zuſammenhang. Die mittel- alterliche Metaphyſik hat ſo eine Erweiterung erfahren, durch welche erſt die geiſtigen Thatſachen und die geſchichtlich-geſell- ſchaftliche Wirklichkeit als ein der Natur und Naturerkenntniß ebenbürtiges Glied ihr eingeordnet wurden. Zum zweiten Male begann ſo die Gedankenarbeit der Metaphyſik. Der Wille zu erkennen fuhr fort, die Subjekte, deren Thun und Eigenſchaften in Natur, Selbſterfahrung und Ge- ſchichte ſich offenbaren, mit dem Gedanken durchdringen zu wollen, und das Leben, welches dieſem Willen der Erkenntniß vorlag, reichte nun in Tiefen, welche der metaphyſiſchen Beſinnung des Alter- thums nicht erreichbar geweſen waren. Es liegt außerhalb des Kreiſes unſerer Erörterung zu betrachten, wie die metaphyſiſche Gedankenarbeit Trinität, Gottmenſchheit in klare und beweisbare Beſtandtheile aufzulöſen den Verſuch machte und die Unlöslichkeit des chriſtlichen Dogma für den Verſtand ſchließlich erkennen mußte. Aber der menſchliche Geiſt erfuhr ferner zum zweiten Male, daß überhaupt ein natürliches metaphyſiſches Syſtem unmöglich ſei. Die Metaphyſik ſchmolz vor der Verſtandeskritik zuſammen wie Schnee bei ſteigender Sonnenwärme. Und ſo endigte das zweite metaphyſiſche Stadium in dieſer Rückſicht wie das erſte, ſo viel inhaltvoller auch der Rückſtand war, den es zurückließ. Dieſer Vorgang geſtattet, wieder tiefer in das Weſen der Metaphyſik ſowie in die Unmöglichkeit ihres dauernden Be- ſtandes zu blicken; denn was die großen inhaltlichen Thatſachen des Geiſtes in ihrem Weſen enthalten, ſagt uns nur die Geſchichte. Die mittelalterliche Metaphyſik ſchloß eine Erweiterung der Welt- anſchauung in ſich, welche in gewiſſen Grenzen noch heute fort- beſteht. Sie enthielt ein tieferes Seelenleben, als das des Alter- thums geweſen war. Und je angeſtrengter ſie ſich bemühte, was nun innerhalb des Horizontes der metaphyſiſchen Beſinnung ſich befand,

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 342. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/365>, abgerufen am 22.11.2024.