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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
solcher Widerspruch zweier Sätze ist eine Antinomie, wenn die
beiden Sätze unvermeidlich sind, und Antinomien sind daher Sätze,
welche von demselben Subjekt mit gleicher Nothwendigkeit Wider-
sprechendes aussagen. Das Alterthum hatte zunächst die Antino-
mien entwickelt, welche in unserer Auffassung der Außenwelt ent-
halten sind; dieselben haben ihre Wurzel im Verhältniß des Er-
kennens zu den äußeren Wahrnehmungen. Die zweite Hälfte
aller Antinomien entspringt, indem die inneren Erfahrungen dem
äußeren Vorstellungszusammenhang eingeordnet werden und das
Erkennen sie seinem Gesetz zu unterwerfen thätig ist. Innerhalb
dieser Klasse traten geschichtlich zuerst die Antinomien des religiösen
Vorstellens, der Theologie und der die religiöse Erfahrung in
sich aufnehmenden Metaphysik hervor; der Kampfplatz derselben
waren Theologie sowie Metaphysik des Mittelalters, und sie
wirkten eben so zersetzend in der altprotestantischen Dogmatik.
Von diesen Antinomien gelangten zunächst in der Zeit der Kirchen-
väter und dem früheren Mittelalter diejenigen zu klassischer Aus-
bildung, welche die Wissenschaft vom Kosmos noch nicht vor-
aussetzten, sondern aus dem Verhältniß der religiösen Erfahrung
zum Vorstellen und zur logischen Reflexion hervorgingen.

Da das religiöse Leben genöthigt ist, sich in einem Vor-
stellungszusammenhang auszudrücken und diesem Vorstellungsin-
begriff als solchem die Antinomien anhaften, so treten dieselben
in parallelen Formen neben einander in der Theologie des
Christenthums, des Judenthums wie des Islam auf. Und zwar
gehört das Bewußtsein dieser Antinomien keineswegs erst der
Zeit der Auflösung der Dogmen an; vielmehr ringt das religiöse
Vorstellen und Denken von Anfang an mit denselben, sie bilden
ein mächtiges Agens in der Dogmenbildung selber und verewigen
die Parteien und den Streit innerhalb der einzelnen Religionen.
Aber die Religion ist nicht Wissenschaft, ja was wichtiger zu
sagen ist, sie ist auch nicht Vorstellen. Die Antinomien der religiösen
Vorstellung lösen die religiöse Erfahrung nicht auf. So wenig
die Antinomien in unserer Raumvorstellung uns bestimmen können,
auf unser räumliches Sehen zu verzichten, so wenig vermögen die

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
ſolcher Widerſpruch zweier Sätze iſt eine Antinomie, wenn die
beiden Sätze unvermeidlich ſind, und Antinomien ſind daher Sätze,
welche von demſelben Subjekt mit gleicher Nothwendigkeit Wider-
ſprechendes ausſagen. Das Alterthum hatte zunächſt die Antino-
mien entwickelt, welche in unſerer Auffaſſung der Außenwelt ent-
halten ſind; dieſelben haben ihre Wurzel im Verhältniß des Er-
kennens zu den äußeren Wahrnehmungen. Die zweite Hälfte
aller Antinomien entſpringt, indem die inneren Erfahrungen dem
äußeren Vorſtellungszuſammenhang eingeordnet werden und das
Erkennen ſie ſeinem Geſetz zu unterwerfen thätig iſt. Innerhalb
dieſer Klaſſe traten geſchichtlich zuerſt die Antinomien des religiöſen
Vorſtellens, der Theologie und der die religiöſe Erfahrung in
ſich aufnehmenden Metaphyſik hervor; der Kampfplatz derſelben
waren Theologie ſowie Metaphyſik des Mittelalters, und ſie
wirkten eben ſo zerſetzend in der altproteſtantiſchen Dogmatik.
Von dieſen Antinomien gelangten zunächſt in der Zeit der Kirchen-
väter und dem früheren Mittelalter diejenigen zu klaſſiſcher Aus-
bildung, welche die Wiſſenſchaft vom Kosmos noch nicht vor-
ausſetzten, ſondern aus dem Verhältniß der religiöſen Erfahrung
zum Vorſtellen und zur logiſchen Reflexion hervorgingen.

Da das religiöſe Leben genöthigt iſt, ſich in einem Vor-
ſtellungszuſammenhang auszudrücken und dieſem Vorſtellungsin-
begriff als ſolchem die Antinomien anhaften, ſo treten dieſelben
in parallelen Formen neben einander in der Theologie des
Chriſtenthums, des Judenthums wie des Islam auf. Und zwar
gehört das Bewußtſein dieſer Antinomien keineswegs erſt der
Zeit der Auflöſung der Dogmen an; vielmehr ringt das religiöſe
Vorſtellen und Denken von Anfang an mit denſelben, ſie bilden
ein mächtiges Agens in der Dogmenbildung ſelber und verewigen
die Parteien und den Streit innerhalb der einzelnen Religionen.
Aber die Religion iſt nicht Wiſſenſchaft, ja was wichtiger zu
ſagen iſt, ſie iſt auch nicht Vorſtellen. Die Antinomien der religiöſen
Vorſtellung löſen die religiöſe Erfahrung nicht auf. So wenig
die Antinomien in unſerer Raumvorſtellung uns beſtimmen können,
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[352/0375] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. ſolcher Widerſpruch zweier Sätze iſt eine Antinomie, wenn die beiden Sätze unvermeidlich ſind, und Antinomien ſind daher Sätze, welche von demſelben Subjekt mit gleicher Nothwendigkeit Wider- ſprechendes ausſagen. Das Alterthum hatte zunächſt die Antino- mien entwickelt, welche in unſerer Auffaſſung der Außenwelt ent- halten ſind; dieſelben haben ihre Wurzel im Verhältniß des Er- kennens zu den äußeren Wahrnehmungen. Die zweite Hälfte aller Antinomien entſpringt, indem die inneren Erfahrungen dem äußeren Vorſtellungszuſammenhang eingeordnet werden und das Erkennen ſie ſeinem Geſetz zu unterwerfen thätig iſt. Innerhalb dieſer Klaſſe traten geſchichtlich zuerſt die Antinomien des religiöſen Vorſtellens, der Theologie und der die religiöſe Erfahrung in ſich aufnehmenden Metaphyſik hervor; der Kampfplatz derſelben waren Theologie ſowie Metaphyſik des Mittelalters, und ſie wirkten eben ſo zerſetzend in der altproteſtantiſchen Dogmatik. Von dieſen Antinomien gelangten zunächſt in der Zeit der Kirchen- väter und dem früheren Mittelalter diejenigen zu klaſſiſcher Aus- bildung, welche die Wiſſenſchaft vom Kosmos noch nicht vor- ausſetzten, ſondern aus dem Verhältniß der religiöſen Erfahrung zum Vorſtellen und zur logiſchen Reflexion hervorgingen. Da das religiöſe Leben genöthigt iſt, ſich in einem Vor- ſtellungszuſammenhang auszudrücken und dieſem Vorſtellungsin- begriff als ſolchem die Antinomien anhaften, ſo treten dieſelben in parallelen Formen neben einander in der Theologie des Chriſtenthums, des Judenthums wie des Islam auf. Und zwar gehört das Bewußtſein dieſer Antinomien keineswegs erſt der Zeit der Auflöſung der Dogmen an; vielmehr ringt das religiöſe Vorſtellen und Denken von Anfang an mit denſelben, ſie bilden ein mächtiges Agens in der Dogmenbildung ſelber und verewigen die Parteien und den Streit innerhalb der einzelnen Religionen. Aber die Religion iſt nicht Wiſſenſchaft, ja was wichtiger zu ſagen iſt, ſie iſt auch nicht Vorſtellen. Die Antinomien der religiöſen Vorſtellung löſen die religiöſe Erfahrung nicht auf. So wenig die Antinomien in unſerer Raumvorſtellung uns beſtimmen können, auf unſer räumliches Sehen zu verzichten, ſo wenig vermögen die

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 352. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/375>, abgerufen am 22.11.2024.