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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Die Theol. d. Judenth., Christenth. u. Islam ringen vergebens mit ihr.
einer starren Prädestinationslehre, nach welcher Gott selber eine An-
zahl der Menschen als unfähig, seine Wahrheit zu vernehmen, für die
Hölle erschaffen hat, und dem praktischen Glauben an die Willens-
freiheit, auf dem die Verantwortlichkeit des Menschen beruht. Nun
machen die Mutaziliten zunächst die eine Seite der Antinomie,
die Selbstgewißheit der inneren Erfahrung von der Freiheit,
geltend. Der menschliche Wille wird nach ihnen als ein selbstthätiges
Prinzip erlebt, welches den Körper wie ein Werkzeug zu Bewegungen
in Thätigkeit setzt, und seine Freiheit schließt ein, daß ihm ein Urtheil
über gut und böse beiwohne 1). Von hier aus entwickeln sie Sätze,
welche sich ausschließend gegenüber der Lehre von Allmacht und
Allwissenheit Gottes für ein konsequentes Vorstellen verhalten. Das
Böse kann nicht auf Gott als Ursache desselben zurückgeführt werden;
denn das Böse ist ein wesentliches Attribut des bösen Wesens (im
Gegensatz zu der Ansicht, nach welcher dieses Attribut innerhalb
des ganzen Zusammenhanges der Weltordnung schwindet); wäre nun
Gott die Ursache des Bösen, so würde dadurch seine Güte aufge-
hoben 2). Die Freiheit kann nicht verneint werden; denn mit ihr
wird die Verantwortlichkeit und folgerecht die Uebung der Ge-
rechtigkeit Gottes in Bezug auf Lohn und Strafe verneint. Während
so die Mutaziliten die Freiheit auf Kosten der Allmacht Gottes
schützen, haben andrerseits diejenigen Sekten, welche den stärkeren
Antrieb im Islam konsequent entwickelten, die Prädestination
auf Kosten der Freiheit vertheidigt. Die Djabarija leugneten
einfach, daß die Handlungen des Menschen ihm angehören, und
führten sie auf Gott zurück. Nur darin sonderten sie sich, daß
die einen dem Menschen das Vermögen zu Handlungen voll-
ständig und ganz absprachen, die andern aber diesem anerschaffe-
nen Vermögen gar keinen Einfluß zuschrieben 3). Unter den Frei-
denkern hat Amr al Gahiz die Nothwendigkeit der Handlungen
behauptet, und er unterschied den Entschluß nur dadurch von

1) Schahrastani I, 55, 59. Die Unterschiede der Parteien innerhalb
der Mutazila kommen hier nicht in Betracht.
2) Ebds. I, 53 f.
3) Ebds. I, 88 ff.
23 *

Die Theol. d. Judenth., Chriſtenth. u. Islam ringen vergebens mit ihr.
einer ſtarren Prädeſtinationslehre, nach welcher Gott ſelber eine An-
zahl der Menſchen als unfähig, ſeine Wahrheit zu vernehmen, für die
Hölle erſchaffen hat, und dem praktiſchen Glauben an die Willens-
freiheit, auf dem die Verantwortlichkeit des Menſchen beruht. Nun
machen die Mutaziliten zunächſt die eine Seite der Antinomie,
die Selbſtgewißheit der inneren Erfahrung von der Freiheit,
geltend. Der menſchliche Wille wird nach ihnen als ein ſelbſtthätiges
Prinzip erlebt, welches den Körper wie ein Werkzeug zu Bewegungen
in Thätigkeit ſetzt, und ſeine Freiheit ſchließt ein, daß ihm ein Urtheil
über gut und böſe beiwohne 1). Von hier aus entwickeln ſie Sätze,
welche ſich ausſchließend gegenüber der Lehre von Allmacht und
Allwiſſenheit Gottes für ein konſequentes Vorſtellen verhalten. Das
Böſe kann nicht auf Gott als Urſache deſſelben zurückgeführt werden;
denn das Böſe iſt ein weſentliches Attribut des böſen Weſens (im
Gegenſatz zu der Anſicht, nach welcher dieſes Attribut innerhalb
des ganzen Zuſammenhanges der Weltordnung ſchwindet); wäre nun
Gott die Urſache des Böſen, ſo würde dadurch ſeine Güte aufge-
hoben 2). Die Freiheit kann nicht verneint werden; denn mit ihr
wird die Verantwortlichkeit und folgerecht die Uebung der Ge-
rechtigkeit Gottes in Bezug auf Lohn und Strafe verneint. Während
ſo die Mutaziliten die Freiheit auf Koſten der Allmacht Gottes
ſchützen, haben andrerſeits diejenigen Sekten, welche den ſtärkeren
Antrieb im Islam konſequent entwickelten, die Prädeſtination
auf Koſten der Freiheit vertheidigt. Die Djabarija leugneten
einfach, daß die Handlungen des Menſchen ihm angehören, und
führten ſie auf Gott zurück. Nur darin ſonderten ſie ſich, daß
die einen dem Menſchen das Vermögen zu Handlungen voll-
ſtändig und ganz abſprachen, die andern aber dieſem anerſchaffe-
nen Vermögen gar keinen Einfluß zuſchrieben 3). Unter den Frei-
denkern hat Amr al Gahiz die Nothwendigkeit der Handlungen
behauptet, und er unterſchied den Entſchluß nur dadurch von

1) Schahraſtani I, 55, 59. Die Unterſchiede der Parteien innerhalb
der Mutazila kommen hier nicht in Betracht.
2) Ebdſ. I, 53 f.
3) Ebdſ. I, 88 ff.
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[355/0378] Die Theol. d. Judenth., Chriſtenth. u. Islam ringen vergebens mit ihr. einer ſtarren Prädeſtinationslehre, nach welcher Gott ſelber eine An- zahl der Menſchen als unfähig, ſeine Wahrheit zu vernehmen, für die Hölle erſchaffen hat, und dem praktiſchen Glauben an die Willens- freiheit, auf dem die Verantwortlichkeit des Menſchen beruht. Nun machen die Mutaziliten zunächſt die eine Seite der Antinomie, die Selbſtgewißheit der inneren Erfahrung von der Freiheit, geltend. Der menſchliche Wille wird nach ihnen als ein ſelbſtthätiges Prinzip erlebt, welches den Körper wie ein Werkzeug zu Bewegungen in Thätigkeit ſetzt, und ſeine Freiheit ſchließt ein, daß ihm ein Urtheil über gut und böſe beiwohne 1). Von hier aus entwickeln ſie Sätze, welche ſich ausſchließend gegenüber der Lehre von Allmacht und Allwiſſenheit Gottes für ein konſequentes Vorſtellen verhalten. Das Böſe kann nicht auf Gott als Urſache deſſelben zurückgeführt werden; denn das Böſe iſt ein weſentliches Attribut des böſen Weſens (im Gegenſatz zu der Anſicht, nach welcher dieſes Attribut innerhalb des ganzen Zuſammenhanges der Weltordnung ſchwindet); wäre nun Gott die Urſache des Böſen, ſo würde dadurch ſeine Güte aufge- hoben 2). Die Freiheit kann nicht verneint werden; denn mit ihr wird die Verantwortlichkeit und folgerecht die Uebung der Ge- rechtigkeit Gottes in Bezug auf Lohn und Strafe verneint. Während ſo die Mutaziliten die Freiheit auf Koſten der Allmacht Gottes ſchützen, haben andrerſeits diejenigen Sekten, welche den ſtärkeren Antrieb im Islam konſequent entwickelten, die Prädeſtination auf Koſten der Freiheit vertheidigt. Die Djabarija leugneten einfach, daß die Handlungen des Menſchen ihm angehören, und führten ſie auf Gott zurück. Nur darin ſonderten ſie ſich, daß die einen dem Menſchen das Vermögen zu Handlungen voll- ſtändig und ganz abſprachen, die andern aber dieſem anerſchaffe- nen Vermögen gar keinen Einfluß zuſchrieben 3). Unter den Frei- denkern hat Amr al Gahiz die Nothwendigkeit der Handlungen behauptet, und er unterſchied den Entſchluß nur dadurch von 1) Schahraſtani I, 55, 59. Die Unterſchiede der Parteien innerhalb der Mutazila kommen hier nicht in Betracht. 2) Ebdſ. I, 53 f. 3) Ebdſ. I, 88 ff. 23 *

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/378>, abgerufen am 22.11.2024.