Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Zweites Buch. Dritter Abschnitt. instinktiven Handlungen, daß wir bei jenem bewußt denken 1).Zwischen den Schwierigkeiten, welche so gleicherweise entstehen, wenn mit der Freiheit oder mit der Prädestination Ernst gemacht wird, schlüpft al Aschari mit einer Halbheit durch. Einerseits ist noch ein Unterschied zwischen unwillkürlichen Bewegungen und will- kürlichen Handlungen in der inneren Erfahrung mit Sicherheit gegeben; andrerseits ist dieselbe Handlung, von Gott aus angesehen, ein Hervorbringen, Bewirken durch Gott, vom Menschen aus be- trachtet, ein "Aneignen" dessen, was Gott bewirkt 2). Dafür ist dann al Aschari Grundlage der späteren orthodoxen Scholastik des Islam geworden, welche in dürren und doch halben Formeln erstarrte. Die Antinomie, welche in diesem Ringen der 1) Schahrastani I, 77; vgl. Steiner's Wiedergabe des Inhaltes der schwer faßbaren Stelle S. 70. 2) Schahrastani I, 98 ff., besonders 102 ff., wozu Steiner S. 86.
Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. inſtinktiven Handlungen, daß wir bei jenem bewußt denken 1).Zwiſchen den Schwierigkeiten, welche ſo gleicherweiſe entſtehen, wenn mit der Freiheit oder mit der Prädeſtination Ernſt gemacht wird, ſchlüpft al Aſchari mit einer Halbheit durch. Einerſeits iſt noch ein Unterſchied zwiſchen unwillkürlichen Bewegungen und will- kürlichen Handlungen in der inneren Erfahrung mit Sicherheit gegeben; andrerſeits iſt dieſelbe Handlung, von Gott aus angeſehen, ein Hervorbringen, Bewirken durch Gott, vom Menſchen aus be- trachtet, ein „Aneignen“ deſſen, was Gott bewirkt 2). Dafür iſt dann al Aſchari Grundlage der ſpäteren orthodoxen Scholaſtik des Islam geworden, welche in dürren und doch halben Formeln erſtarrte. Die Antinomie, welche in dieſem Ringen der 1) Schahraſtani I, 77; vgl. Steiner’s Wiedergabe des Inhaltes der ſchwer faßbaren Stelle S. 70. 2) Schahraſtani I, 98 ff., beſonders 102 ff., wozu Steiner S. 86.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0379" n="356"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.</fw><lb/> inſtinktiven Handlungen, daß wir bei jenem bewußt denken <note place="foot" n="1)">Schahraſtani <hi rendition="#aq">I,</hi> 77; vgl. Steiner’s Wiedergabe des Inhaltes der<lb/> ſchwer faßbaren Stelle S. 70.</note>.<lb/> Zwiſchen den Schwierigkeiten, welche ſo gleicherweiſe entſtehen,<lb/> wenn mit der Freiheit oder mit der Prädeſtination Ernſt gemacht<lb/> wird, ſchlüpft <hi rendition="#g">al Aſchari</hi> mit einer Halbheit durch. Einerſeits iſt<lb/> noch ein Unterſchied zwiſchen unwillkürlichen Bewegungen und will-<lb/> kürlichen Handlungen in der inneren Erfahrung mit Sicherheit<lb/> gegeben; andrerſeits iſt dieſelbe Handlung, von Gott aus angeſehen,<lb/> ein Hervorbringen, Bewirken durch Gott, vom Menſchen aus be-<lb/> trachtet, ein „Aneignen“ deſſen, was Gott bewirkt <note place="foot" n="2)">Schahraſtani <hi rendition="#aq">I,</hi> 98 ff., beſonders 102 ff., wozu Steiner S. 86.</note>. Dafür iſt<lb/> dann al Aſchari Grundlage der ſpäteren orthodoxen Scholaſtik des<lb/> Islam geworden, welche in dürren und doch halben Formeln<lb/> erſtarrte.</p><lb/> <p>Die <hi rendition="#g">Antinomie</hi>, welche <hi rendition="#g">in dieſem Ringen</hi> der<lb/><hi rendition="#g">theologiſchen Sekten</hi> zum Vorſchein kommt, hat ſpäter<lb/><hi rendition="#g">Ibn Roſchd</hi> in abſchließender Verſtandesklarheit folgendermaßen<lb/> ausgeſprochen. Die Beweiſe ſind in dieſer Frage, einer der<lb/> ſchwierigſten der Religion, einander entgegengeſetzt, und „des-<lb/> wegen haben ſich die Moslimen in zwei Parteien getrennt; die<lb/> eine Partei glaubt, daß das Verdienſt des Menſchen Urſache<lb/> des Laſters und der Tugend ſei und dieſe für ihn Belohnung<lb/> und Beſtrafung zur Folge haben. Dies ſind die Mutazila.<lb/> Die andere Partei glaubt das Gegentheil, nämlich daß der<lb/> Menſch zu ſeinen Handlungen gezwungen und gedrängt ſei.“ Der<lb/> „Widerſpruch der aus dem Verſtande hergenommenen Beweiſe in<lb/> dieſer Frage“ läßt ſich in folgenden beiden Gliedern darſtellen,<lb/> deren jedes zugleich nothwendig und unmöglich iſt. <hi rendition="#g">Theſis</hi>:<lb/> „Wenn wir annehmen, daß der Menſch ſeine Handlungen hervor-<lb/> bringt und ſchafft, ſo iſt es nothwendig, daß es Handlungen giebt,<lb/> welche nicht nach dem Willen Gottes und ſeiner freien Entſchließung<lb/> geſchehen, und dann gäbe es einen Schöpfer außer Gott. Nun<lb/> aber ſind alle Moslimen darin einverſtanden, daß es keinen Schöpfer<lb/> außer Gott giebt“ (und die Einzigkeit Gottes iſt von Ibn Roſchd<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [356/0379]
Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
inſtinktiven Handlungen, daß wir bei jenem bewußt denken 1).
Zwiſchen den Schwierigkeiten, welche ſo gleicherweiſe entſtehen,
wenn mit der Freiheit oder mit der Prädeſtination Ernſt gemacht
wird, ſchlüpft al Aſchari mit einer Halbheit durch. Einerſeits iſt
noch ein Unterſchied zwiſchen unwillkürlichen Bewegungen und will-
kürlichen Handlungen in der inneren Erfahrung mit Sicherheit
gegeben; andrerſeits iſt dieſelbe Handlung, von Gott aus angeſehen,
ein Hervorbringen, Bewirken durch Gott, vom Menſchen aus be-
trachtet, ein „Aneignen“ deſſen, was Gott bewirkt 2). Dafür iſt
dann al Aſchari Grundlage der ſpäteren orthodoxen Scholaſtik des
Islam geworden, welche in dürren und doch halben Formeln
erſtarrte.
Die Antinomie, welche in dieſem Ringen der
theologiſchen Sekten zum Vorſchein kommt, hat ſpäter
Ibn Roſchd in abſchließender Verſtandesklarheit folgendermaßen
ausgeſprochen. Die Beweiſe ſind in dieſer Frage, einer der
ſchwierigſten der Religion, einander entgegengeſetzt, und „des-
wegen haben ſich die Moslimen in zwei Parteien getrennt; die
eine Partei glaubt, daß das Verdienſt des Menſchen Urſache
des Laſters und der Tugend ſei und dieſe für ihn Belohnung
und Beſtrafung zur Folge haben. Dies ſind die Mutazila.
Die andere Partei glaubt das Gegentheil, nämlich daß der
Menſch zu ſeinen Handlungen gezwungen und gedrängt ſei.“ Der
„Widerſpruch der aus dem Verſtande hergenommenen Beweiſe in
dieſer Frage“ läßt ſich in folgenden beiden Gliedern darſtellen,
deren jedes zugleich nothwendig und unmöglich iſt. Theſis:
„Wenn wir annehmen, daß der Menſch ſeine Handlungen hervor-
bringt und ſchafft, ſo iſt es nothwendig, daß es Handlungen giebt,
welche nicht nach dem Willen Gottes und ſeiner freien Entſchließung
geſchehen, und dann gäbe es einen Schöpfer außer Gott. Nun
aber ſind alle Moslimen darin einverſtanden, daß es keinen Schöpfer
außer Gott giebt“ (und die Einzigkeit Gottes iſt von Ibn Roſchd
1) Schahraſtani I, 77; vgl. Steiner’s Wiedergabe des Inhaltes der
ſchwer faßbaren Stelle S. 70.
2) Schahraſtani I, 98 ff., beſonders 102 ff., wozu Steiner S. 86.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDarüber hinaus sind keine weiteren Bände erschien… [mehr] Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |