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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweite Ausrede des theologischen Verstandes.
Mittelalters haben das Verdienst, in der Kooperation des Wirkens
Gottes mit der menschlichen Freiheit bei jedem Willensakte einen
Mechanismus hergestellt zu haben, in welchem ein a und ein
non a freundnachbarlich nebeneinander als Springfedern wirken.

Die andere Methode, die Schärfe der Antinomie zu mildern,
besteht darin, durch Begriffsbestimmungen die Vorstellung von der
Abhängigkeit innerhalb des in Gott gegründeten ursächlichen Systems
der von der Freiheit anzunähern. Bald wird versucht die Kau-
salität Gottes in Bezug auf die Handlungen der Menschen abzu-
schwächen, bald die Freiheit des Menschen zu verdünnen und zu
verflüchtigen; solche Begriffsbestimmungen gehen von der Lehre der
Ascharija bis zu den protestantischen Dogmatikern. So sieht man
Anselm den menschlichen Willen verflüchtigen bis auf den arm-
seligen Rest einer Fähigkeit, die ihm von Gott gegebene Richtung
festzuhalten 1), und in diesem Rest ist doch eine Grenze des gött-
lichen Willens und die absolute Macht eines Geschöpfes enthalten.
So führt Thomas die Realität in der menschlichen Handlung auf
Gott als Ursache zurück, wogegen er den Defekt in ihr, auf
Grund dessen sie böse ist, dem Geschöpf zuschreibt 2); als ob der
Impuls zum Bösen nicht etwas Positives wäre! Und da die
Dinge mit Gott gemäß ihrer Natur zusammenwirken, die Natur
des menschlichen Willens aber Freiheit sei, findet er Gottes Willen
mit der Freiheit des Menschen in Einklang 3). Anderer Schutt
der Arbeit an diesen Widersprüchen wird sichtbar, wenn Gottes
Voraussicht von Anselm als ein ewiges und unwandelbares Wissen
auch des Wandelbaren bestimmt wird, und so der Verstand die

1) Anselm dialog. de casu diaboli c. 4 Opp. t. I p. 332 B f.; de con-
cordia
etc. quaest. III c. 2 ff. Opp. t. I p. 522 ff.
2) Thomas summa theol. p. I quaest. 49 art. 2: effectus causae
secundae deficientis reducitur in causam primam non deficientem, quan-
tum ad id, quod habet entitatis et perfectionis, non autem quantum ad
id, quod habet de defectu ... quicquid est entitatis et actionis in actione
mala, reducitur in Deum sicut in causam; sed quod est ibi defectus,
non causatur a Deo, sed ex causa secunda deficiente;
womit altpro-
testantische Dogmatiker übereinstimmen.
3) Thomas summa theol. p. II, 1 quaest. 10 art. 4.

Zweite Ausrede des theologiſchen Verſtandes.
Mittelalters haben das Verdienſt, in der Kooperation des Wirkens
Gottes mit der menſchlichen Freiheit bei jedem Willensakte einen
Mechanismus hergeſtellt zu haben, in welchem ein a und ein
non a freundnachbarlich nebeneinander als Springfedern wirken.

Die andere Methode, die Schärfe der Antinomie zu mildern,
beſteht darin, durch Begriffsbeſtimmungen die Vorſtellung von der
Abhängigkeit innerhalb des in Gott gegründeten urſächlichen Syſtems
der von der Freiheit anzunähern. Bald wird verſucht die Kau-
ſalität Gottes in Bezug auf die Handlungen der Menſchen abzu-
ſchwächen, bald die Freiheit des Menſchen zu verdünnen und zu
verflüchtigen; ſolche Begriffsbeſtimmungen gehen von der Lehre der
Aſcharija bis zu den proteſtantiſchen Dogmatikern. So ſieht man
Anſelm den menſchlichen Willen verflüchtigen bis auf den arm-
ſeligen Reſt einer Fähigkeit, die ihm von Gott gegebene Richtung
feſtzuhalten 1), und in dieſem Reſt iſt doch eine Grenze des gött-
lichen Willens und die abſolute Macht eines Geſchöpfes enthalten.
So führt Thomas die Realität in der menſchlichen Handlung auf
Gott als Urſache zurück, wogegen er den Defekt in ihr, auf
Grund deſſen ſie böſe iſt, dem Geſchöpf zuſchreibt 2); als ob der
Impuls zum Böſen nicht etwas Poſitives wäre! Und da die
Dinge mit Gott gemäß ihrer Natur zuſammenwirken, die Natur
des menſchlichen Willens aber Freiheit ſei, findet er Gottes Willen
mit der Freiheit des Menſchen in Einklang 3). Anderer Schutt
der Arbeit an dieſen Widerſprüchen wird ſichtbar, wenn Gottes
Vorausſicht von Anſelm als ein ewiges und unwandelbares Wiſſen
auch des Wandelbaren beſtimmt wird, und ſo der Verſtand die

1) Anſelm dialog. de casu diaboli c. 4 Opp. t. I p. 332 B f.; de con-
cordia
etc. quaest. III c. 2 ff. Opp. t. I p. 522 ff.
2) Thomas summa theol. p. I quaest. 49 art. 2: effectus causae
secundae deficientis reducitur in causam primam non deficientem, quan-
tum ad id, quod habet entitatis et perfectionis, non autem quantum ad
id, quod habet de defectu … quicquid est entitatis et actionis in actione
mala, reducitur in Deum sicut in causam; sed quod est ibi defectus,
non causatur a Deo, sed ex causa secunda deficiente;
womit altpro-
teſtantiſche Dogmatiker übereinſtimmen.
3) Thomas summa theol. p. II, 1 quaest. 10 art. 4.
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[361/0384] Zweite Ausrede des theologiſchen Verſtandes. Mittelalters haben das Verdienſt, in der Kooperation des Wirkens Gottes mit der menſchlichen Freiheit bei jedem Willensakte einen Mechanismus hergeſtellt zu haben, in welchem ein a und ein non a freundnachbarlich nebeneinander als Springfedern wirken. Die andere Methode, die Schärfe der Antinomie zu mildern, beſteht darin, durch Begriffsbeſtimmungen die Vorſtellung von der Abhängigkeit innerhalb des in Gott gegründeten urſächlichen Syſtems der von der Freiheit anzunähern. Bald wird verſucht die Kau- ſalität Gottes in Bezug auf die Handlungen der Menſchen abzu- ſchwächen, bald die Freiheit des Menſchen zu verdünnen und zu verflüchtigen; ſolche Begriffsbeſtimmungen gehen von der Lehre der Aſcharija bis zu den proteſtantiſchen Dogmatikern. So ſieht man Anſelm den menſchlichen Willen verflüchtigen bis auf den arm- ſeligen Reſt einer Fähigkeit, die ihm von Gott gegebene Richtung feſtzuhalten 1), und in dieſem Reſt iſt doch eine Grenze des gött- lichen Willens und die abſolute Macht eines Geſchöpfes enthalten. So führt Thomas die Realität in der menſchlichen Handlung auf Gott als Urſache zurück, wogegen er den Defekt in ihr, auf Grund deſſen ſie böſe iſt, dem Geſchöpf zuſchreibt 2); als ob der Impuls zum Böſen nicht etwas Poſitives wäre! Und da die Dinge mit Gott gemäß ihrer Natur zuſammenwirken, die Natur des menſchlichen Willens aber Freiheit ſei, findet er Gottes Willen mit der Freiheit des Menſchen in Einklang 3). Anderer Schutt der Arbeit an dieſen Widerſprüchen wird ſichtbar, wenn Gottes Vorausſicht von Anſelm als ein ewiges und unwandelbares Wiſſen auch des Wandelbaren beſtimmt wird, und ſo der Verſtand die 1) Anſelm dialog. de casu diaboli c. 4 Opp. t. I p. 332 B f.; de con- cordia etc. quaest. III c. 2 ff. Opp. t. I p. 522 ff. 2) Thomas summa theol. p. I quaest. 49 art. 2: effectus causae secundae deficientis reducitur in causam primam non deficientem, quan- tum ad id, quod habet entitatis et perfectionis, non autem quantum ad id, quod habet de defectu … quicquid est entitatis et actionis in actione mala, reducitur in Deum sicut in causam; sed quod est ibi defectus, non causatur a Deo, sed ex causa secunda deficiente; womit altpro- teſtantiſche Dogmatiker übereinſtimmen. 3) Thomas summa theol. p. II, 1 quaest. 10 art. 4.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 361. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/384>, abgerufen am 22.11.2024.