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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
bischen Vorgänger von Ibn Roschd so zusammengefaßt worden.
Gott hat die Willenskraft geschaffen, welche entgegengesetzte Dinge
zu erwerben vermögend ist, aber auch einen Zusammenhang von
Ursachen, durch deren Vermittlung allein der Wille an die äußeren
Dinge herandringen kann, welche er erreichen will, und zugleich
ist dieser Wille auch innerlich an den Kausalzusammenhang ge-
bunden, weil das Setzen des Ziels durch das objektive Verhältniß
der Auffassung zu den Gegenständen bedingt ist 1). Derselben Me-
thode bedienen sich neben den arabischen die jüdischen Philosophen;
sie theilen den formalen Scharfsinn und die sinnliche Flachheit
dieser Darlegung, werden aber durchgreifender als die Denker des
Islam von dem Freiheitsbewußtsein geleitet 2). So geht der Kusari
des berühmten jüdischen Dichters Jehuda Halevi von dem in
Gott gegründeten System der Ursachen aus; Veränderungen werden
in diesem System entweder direkt oder durch Mittelursachen von
Gott aus bewirkt, in dieser Verkettung treten die Wahlhandlungen
des Menschen auf, und wo sie erscheinen, ist der Uebergang aus
dieser nothwendigen Verkettung zur Freiheit. "Die Wahl hat
Gründe, die in einer Verkettung bis zur ersten Ursache zurück-
führen, aber diese Verkettung ist ohne Zwang, weil die Seele
sich zwischen einem Entschluß und dessen Gegentheil befindet und
thun kann, was sie will 3)." Und die christlichen Theologen des

1) Averroes a. a. O. S. 99.
2) So im Kusari S. 414 (übers. von Cassel): "Die Natur des Mög-
lichen wird nur von dem hartnäckigen Heuchler geleugnet, der spricht, woran
er nicht glaubt. Aus seiner Vorbereitung auf das, was er hofft oder
fürchtet, kannst du ersehen, daß (er glaubt daß) die Sache möglich, also die
Vorbereitung von Nutzen ist." Maimonides, More Nebochim Th. III, 102
(übers. von Scheyer): "Es ist ein Grundsatz der Gesetze unseres Lehrers
Moses und aller, die ihm anhängen, daß der Mensch vollkommene Freiheit
habe d. h. daß er vermöge seiner Natur mit freier Wahl und Selbstbe-
stimmung Alles thue, was er zu thun vermag, ohne daß hierzu etwas
Neues in ihm hervorgebracht wird. Auf gleiche Weise bewegen sich alle
Gattungen der unvernünftigen Thiere nach ihrer Willkür. So wollte es
die Gottheit ... Daß diesem Grundsatz von Männern unserer Nation und
unsres Glaubens je widersprochen wurde, ist nie gehört worden."
3) Kusari S. 416.

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
biſchen Vorgänger von Ibn Roſchd ſo zuſammengefaßt worden.
Gott hat die Willenskraft geſchaffen, welche entgegengeſetzte Dinge
zu erwerben vermögend iſt, aber auch einen Zuſammenhang von
Urſachen, durch deren Vermittlung allein der Wille an die äußeren
Dinge herandringen kann, welche er erreichen will, und zugleich
iſt dieſer Wille auch innerlich an den Kauſalzuſammenhang ge-
bunden, weil das Setzen des Ziels durch das objektive Verhältniß
der Auffaſſung zu den Gegenſtänden bedingt iſt 1). Derſelben Me-
thode bedienen ſich neben den arabiſchen die jüdiſchen Philoſophen;
ſie theilen den formalen Scharfſinn und die ſinnliche Flachheit
dieſer Darlegung, werden aber durchgreifender als die Denker des
Islam von dem Freiheitsbewußtſein geleitet 2). So geht der Kuſari
des berühmten jüdiſchen Dichters Jehuda Halevi von dem in
Gott gegründeten Syſtem der Urſachen aus; Veränderungen werden
in dieſem Syſtem entweder direkt oder durch Mittelurſachen von
Gott aus bewirkt, in dieſer Verkettung treten die Wahlhandlungen
des Menſchen auf, und wo ſie erſcheinen, iſt der Uebergang aus
dieſer nothwendigen Verkettung zur Freiheit. „Die Wahl hat
Gründe, die in einer Verkettung bis zur erſten Urſache zurück-
führen, aber dieſe Verkettung iſt ohne Zwang, weil die Seele
ſich zwiſchen einem Entſchluß und deſſen Gegentheil befindet und
thun kann, was ſie will 3).“ Und die chriſtlichen Theologen des

1) Averroes a. a. O. S. 99.
2) So im Kuſari S. 414 (überſ. von Caſſel): „Die Natur des Mög-
lichen wird nur von dem hartnäckigen Heuchler geleugnet, der ſpricht, woran
er nicht glaubt. Aus ſeiner Vorbereitung auf das, was er hofft oder
fürchtet, kannſt du erſehen, daß (er glaubt daß) die Sache möglich, alſo die
Vorbereitung von Nutzen iſt.“ Maimonides, More Nebochim Th. III, 102
(überſ. von Scheyer): „Es iſt ein Grundſatz der Geſetze unſeres Lehrers
Moſes und aller, die ihm anhängen, daß der Menſch vollkommene Freiheit
habe d. h. daß er vermöge ſeiner Natur mit freier Wahl und Selbſtbe-
ſtimmung Alles thue, was er zu thun vermag, ohne daß hierzu etwas
Neues in ihm hervorgebracht wird. Auf gleiche Weiſe bewegen ſich alle
Gattungen der unvernünftigen Thiere nach ihrer Willkür. So wollte es
die Gottheit … Daß dieſem Grundſatz von Männern unſerer Nation und
unſres Glaubens je widerſprochen wurde, iſt nie gehört worden.“
3) Kuſari S. 416.
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[360/0383] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. biſchen Vorgänger von Ibn Roſchd ſo zuſammengefaßt worden. Gott hat die Willenskraft geſchaffen, welche entgegengeſetzte Dinge zu erwerben vermögend iſt, aber auch einen Zuſammenhang von Urſachen, durch deren Vermittlung allein der Wille an die äußeren Dinge herandringen kann, welche er erreichen will, und zugleich iſt dieſer Wille auch innerlich an den Kauſalzuſammenhang ge- bunden, weil das Setzen des Ziels durch das objektive Verhältniß der Auffaſſung zu den Gegenſtänden bedingt iſt 1). Derſelben Me- thode bedienen ſich neben den arabiſchen die jüdiſchen Philoſophen; ſie theilen den formalen Scharfſinn und die ſinnliche Flachheit dieſer Darlegung, werden aber durchgreifender als die Denker des Islam von dem Freiheitsbewußtſein geleitet 2). So geht der Kuſari des berühmten jüdiſchen Dichters Jehuda Halevi von dem in Gott gegründeten Syſtem der Urſachen aus; Veränderungen werden in dieſem Syſtem entweder direkt oder durch Mittelurſachen von Gott aus bewirkt, in dieſer Verkettung treten die Wahlhandlungen des Menſchen auf, und wo ſie erſcheinen, iſt der Uebergang aus dieſer nothwendigen Verkettung zur Freiheit. „Die Wahl hat Gründe, die in einer Verkettung bis zur erſten Urſache zurück- führen, aber dieſe Verkettung iſt ohne Zwang, weil die Seele ſich zwiſchen einem Entſchluß und deſſen Gegentheil befindet und thun kann, was ſie will 3).“ Und die chriſtlichen Theologen des 1) Averroes a. a. O. S. 99. 2) So im Kuſari S. 414 (überſ. von Caſſel): „Die Natur des Mög- lichen wird nur von dem hartnäckigen Heuchler geleugnet, der ſpricht, woran er nicht glaubt. Aus ſeiner Vorbereitung auf das, was er hofft oder fürchtet, kannſt du erſehen, daß (er glaubt daß) die Sache möglich, alſo die Vorbereitung von Nutzen iſt.“ Maimonides, More Nebochim Th. III, 102 (überſ. von Scheyer): „Es iſt ein Grundſatz der Geſetze unſeres Lehrers Moſes und aller, die ihm anhängen, daß der Menſch vollkommene Freiheit habe d. h. daß er vermöge ſeiner Natur mit freier Wahl und Selbſtbe- ſtimmung Alles thue, was er zu thun vermag, ohne daß hierzu etwas Neues in ihm hervorgebracht wird. Auf gleiche Weiſe bewegen ſich alle Gattungen der unvernünftigen Thiere nach ihrer Willkür. So wollte es die Gottheit … Daß dieſem Grundſatz von Männern unſerer Nation und unſres Glaubens je widerſprochen wurde, iſt nie gehört worden.“ 3) Kuſari S. 416.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 360. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/383>, abgerufen am 22.11.2024.