Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Zweites Buch. Dritter Abschnitt. anderer Antinomien entsteht durch die Beziehungen, welcheinhaltlich zwischen den einzelnen Bestandtheilen der Vor- stellung Gottes auftreten. Unser Vorstellen Gottes in seiner Be- ziehung zur Welt und uns selber ist an die Bedingungen räum- licher und zeitlicher Beziehungen gebunden, unter welchen die Welt und wir selber stehen, aber die Idee Gottes schließt räumliche und zeitliche Bestimmungen aus. Unser religiöses Leben besitzt Gott als einen Willen, wir können jedoch einen Willen nur als Person und diese nur als von anderen Personen eingeschränkt vorstellen. Endlich ist die unbedingte Kausalität Gottes d. h. seine Allmacht, welche auch die Ursache der Uebel in der Welt ist, mit dem sittlichen Ideal in ihm d. h. seiner Güte in Widerspruch, und so entspringt das unauflösbare Problem der Theodicee 1). Auch diese ganze Klasse von Antinomien ist, wie die früher 1) Vgl. neben den nachfolgenden Stellen Abälard sic et non c. 31--38 p. 1389 c ff. 2) Augustinus de trinitate V c. 1: ut sic intelligamus Deum, si possu- mus, quantum possumus, sine qualitate bonum, sine quantitate magnum, sine indigentia creatorem, sine situ praesidentem, sine habitu omnia continentem, sine loco ubique totum, sine tempore sempiternum, sine ulla sui mutatione mutabilia facientem ... 3) Schahrastani I, 13: "die Mutazila übertreiben aber bei der Behaup-
tung der Einheit so viel, daß sie durch die Bestreitung der Eigenschaften zur gänzlichen Leermachung gelangen." Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. anderer Antinomien entſteht durch die Beziehungen, welcheinhaltlich zwiſchen den einzelnen Beſtandtheilen der Vor- ſtellung Gottes auftreten. Unſer Vorſtellen Gottes in ſeiner Be- ziehung zur Welt und uns ſelber iſt an die Bedingungen räum- licher und zeitlicher Beziehungen gebunden, unter welchen die Welt und wir ſelber ſtehen, aber die Idee Gottes ſchließt räumliche und zeitliche Beſtimmungen aus. Unſer religiöſes Leben beſitzt Gott als einen Willen, wir können jedoch einen Willen nur als Perſon und dieſe nur als von anderen Perſonen eingeſchränkt vorſtellen. Endlich iſt die unbedingte Kauſalität Gottes d. h. ſeine Allmacht, welche auch die Urſache der Uebel in der Welt iſt, mit dem ſittlichen Ideal in ihm d. h. ſeiner Güte in Widerſpruch, und ſo entſpringt das unauflösbare Problem der Theodicee 1). Auch dieſe ganze Klaſſe von Antinomien iſt, wie die früher 1) Vgl. neben den nachfolgenden Stellen Abälard sic et non c. 31—38 p. 1389 c ff. 2) Auguſtinus de trinitate V c. 1: ut sic intelligamus Deum, si possu- mus, quantum possumus, sine qualitate bonum, sine quantitate magnum, sine indigentia creatorem, sine situ praesidentem, sine habitu omnia continentem, sine loco ubique totum, sine tempore sempiternum, sine ulla sui mutatione mutabilia facientem … 3) Schahraſtani I, 13: „die Mutazila übertreiben aber bei der Behaup-
tung der Einheit ſo viel, daß ſie durch die Beſtreitung der Eigenſchaften zur gänzlichen Leermachung gelangen.“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0387" n="364"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.</fw><lb/> anderer Antinomien entſteht durch die <hi rendition="#g">Beziehungen</hi>, welche<lb/><hi rendition="#g">inhaltlich</hi> zwiſchen den <hi rendition="#g">einzelnen Beſtandtheilen</hi> der <hi rendition="#g">Vor-<lb/> ſtellung</hi> Gottes auftreten. Unſer Vorſtellen Gottes in ſeiner Be-<lb/> ziehung zur Welt und uns ſelber iſt an die Bedingungen räum-<lb/> licher und zeitlicher Beziehungen gebunden, unter welchen die Welt<lb/> und wir ſelber ſtehen, aber die Idee Gottes ſchließt räumliche<lb/> und zeitliche Beſtimmungen aus. Unſer religiöſes Leben beſitzt<lb/> Gott als einen Willen, wir können jedoch einen Willen nur als<lb/> Perſon und dieſe nur als von anderen Perſonen eingeſchränkt<lb/> vorſtellen. Endlich iſt die unbedingte Kauſalität Gottes d. h. ſeine<lb/> Allmacht, welche auch die Urſache der Uebel in der Welt iſt, mit<lb/> dem ſittlichen Ideal in ihm d. h. ſeiner Güte in Widerſpruch,<lb/> und ſo entſpringt das unauflösbare Problem der Theodicee <note place="foot" n="1)">Vgl. neben den nachfolgenden Stellen Abälard <hi rendition="#aq">sic et non c. 31—38 p. 1389 c</hi> ff.</note>.</p><lb/> <p>Auch dieſe ganze Klaſſe von Antinomien iſt, wie die früher<lb/> behandelten, mit dem religiöſen Vorſtellen zugleich gegeben und<lb/> wird ſchon bei der Arbeit, es in Formeln auszudrücken, em-<lb/> pfunden ſowie aufzulöſen verſucht. <hi rendition="#g">Auguſtinus</hi> hat mit der ihm<lb/> eigenen Energie des Ausdruckes dies Antinomiſche der Gottes-<lb/> vorſtellung ausgeſprochen: „groß ohne quantitative Beſtimmung,<lb/> allgegenwärtig ohne einen Ort einzunehmen, Kauſalität der Ver-<lb/> änderungen ohne Veränderung in ſich etc. <note place="foot" n="2)">Auguſtinus <hi rendition="#aq">de trinitate V c. 1: ut sic intelligamus Deum, si possu-<lb/> mus, quantum possumus, sine qualitate bonum, sine quantitate magnum,<lb/> sine indigentia creatorem, sine situ praesidentem, sine habitu omnia<lb/> continentem, sine loco ubique totum, sine tempore sempiternum, sine<lb/> ulla sui mutatione mutabilia facientem …</hi></note>.“ Das Bewußtſein<lb/> dieſer Widerſprüche tritt im <hi rendition="#g">Islam</hi> bei den <hi rendition="#g">Mutaziliten</hi> in großer<lb/> Klarheit auf und hat ſie zur Leugnung der Eigenſchaften Gottes<lb/> geführt <note place="foot" n="3)">Schahraſtani <hi rendition="#aq">I, 13:</hi> „die Mutazila übertreiben aber bei der Behaup-<lb/> tung der Einheit ſo viel, daß ſie durch die Beſtreitung der Eigenſchaften zur<lb/> gänzlichen Leermachung gelangen.“</note>. Ja von einem Mitglied dieſer Schule, welches freilich<lb/> in der Aufhebung von Eigenſchaften in Gott weiter ging als die<lb/> anderen, wurde Gott das Wiſſen abgeſprochen; denn entweder<lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [364/0387]
Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
anderer Antinomien entſteht durch die Beziehungen, welche
inhaltlich zwiſchen den einzelnen Beſtandtheilen der Vor-
ſtellung Gottes auftreten. Unſer Vorſtellen Gottes in ſeiner Be-
ziehung zur Welt und uns ſelber iſt an die Bedingungen räum-
licher und zeitlicher Beziehungen gebunden, unter welchen die Welt
und wir ſelber ſtehen, aber die Idee Gottes ſchließt räumliche
und zeitliche Beſtimmungen aus. Unſer religiöſes Leben beſitzt
Gott als einen Willen, wir können jedoch einen Willen nur als
Perſon und dieſe nur als von anderen Perſonen eingeſchränkt
vorſtellen. Endlich iſt die unbedingte Kauſalität Gottes d. h. ſeine
Allmacht, welche auch die Urſache der Uebel in der Welt iſt, mit
dem ſittlichen Ideal in ihm d. h. ſeiner Güte in Widerſpruch,
und ſo entſpringt das unauflösbare Problem der Theodicee 1).
Auch dieſe ganze Klaſſe von Antinomien iſt, wie die früher
behandelten, mit dem religiöſen Vorſtellen zugleich gegeben und
wird ſchon bei der Arbeit, es in Formeln auszudrücken, em-
pfunden ſowie aufzulöſen verſucht. Auguſtinus hat mit der ihm
eigenen Energie des Ausdruckes dies Antinomiſche der Gottes-
vorſtellung ausgeſprochen: „groß ohne quantitative Beſtimmung,
allgegenwärtig ohne einen Ort einzunehmen, Kauſalität der Ver-
änderungen ohne Veränderung in ſich etc. 2).“ Das Bewußtſein
dieſer Widerſprüche tritt im Islam bei den Mutaziliten in großer
Klarheit auf und hat ſie zur Leugnung der Eigenſchaften Gottes
geführt 3). Ja von einem Mitglied dieſer Schule, welches freilich
in der Aufhebung von Eigenſchaften in Gott weiter ging als die
anderen, wurde Gott das Wiſſen abgeſprochen; denn entweder
1) Vgl. neben den nachfolgenden Stellen Abälard sic et non c. 31—38 p. 1389 c ff.
2) Auguſtinus de trinitate V c. 1: ut sic intelligamus Deum, si possu-
mus, quantum possumus, sine qualitate bonum, sine quantitate magnum,
sine indigentia creatorem, sine situ praesidentem, sine habitu omnia
continentem, sine loco ubique totum, sine tempore sempiternum, sine
ulla sui mutatione mutabilia facientem …
3) Schahraſtani I, 13: „die Mutazila übertreiben aber bei der Behaup-
tung der Einheit ſo viel, daß ſie durch die Beſtreitung der Eigenſchaften zur
gänzlichen Leermachung gelangen.“
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