Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.Erstes einleitendes Buch. Bei vollendeter Kenntniß aller Theile des materiellen Systems,ihrer gegenseitigen Lage und ihrer Bewegung bleibt es doch durch- aus unbegreiflich, wie einer Anzahl von Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Stickstoff-, Sauerstoff-Atomen nicht sollte gleichgiltig sein, wie sie liegen und sich bewegen. Diese Unerklärbarkeit des Geistigen bleibt ganz ebenso bestehen, wenn man diese Elemente nach Art der Monaden schon einzeln mit Bewußtsein ausstattet, und von dieser Annahme aus kann das einheitliche Bewußtsein des Individuums nicht erklärt werden 1). Schon sein zu beweisender Satz enthält in dem "nie zu begreifen" einen Doppelsinn, und dieser hat im Beweis selber ein Hervortreten zweier Argumente von ganz ver- schiedener Tragweite neben einander zur Folge. Er behauptet ein- mal, daß der Versuch, aus materiellen Veränderungen geistige Thatsachen abzuleiten (der gegenwärtig als roher Materialismus verschollen ist, und nur noch in der Weise der Aufnahme psychi- scher Eigenschaften in die Elemente gemacht wird), die immanente 1) a. a. O. 29. 30. vgl. Räthsel 7. Diese Argumentation ist übrigens
nur schlußkräftig, wenn der atomistischen Mechanik sozusagen metaphysische Giltigkeit beigelegt wird. Zu ihrer von Du Bois-R. berührten Geschichte kann auch die Formulirung bei dem Classiker der rationalen Psychologie, Mendelssohn, verglichen werden. Z. B. Schriften (Leipzig 1880) I, 277: 1) "Alles was der menschliche Körper vom Marmorblock Verschiedenes hat, läßt sich auf Bewegung zurückführen. Nun ist die Bewegung nichts Anderes, als die Veränderung des Orts oder der Lage. Es leuchtet in die Augen, daß durch alle möglichen Ortsveränderungen in der Welt, sie mögen noch so zusammengesetzt sein, kein Wahrnehmen dieser Ortsveränderungen zu er- halten sei." 2) "Alle Materie besteht aus mehreren Theilen. Wenn die ein- zelnen Vorstellungen so in den Theilen der Seele isolirt wären wie die Gegenstände in der Natur, so wäre das Ganze nirgends anzutreffen. Wir würden die Eindrücke verschiedener Sinne nicht vergleichen, die Vorstellungen nicht gegeneinanderhalten, keine Verhältnisse wahrnehmen, keine Beziehungen erkennen können. Hieraus ist klar, daß nicht nur zum Denken, sondern zum Empfinden Vieles in Einem zusammenkommen muß. Da aber die Materie niemals ein einziges Subjekt wird u. s. w." Kant entwickelt diesen "Achilles aller dialektischen Schlüsse der reinen Seelenlehre" als zweiten Paralogismus der transscendentalen Psychologie. Bei Lotze wurden diese "Thaten des beziehenden Wissens" als "nicht zu überwältigender Grund, auf welchem die Ueberzeugung von der Selbständigkeit eines Seelen- wesens sicher beruhen kann", in mehreren Schriften (zuletzt Metaphysik 476) ent- wickelt und bilden die Grundlage dieses Theils seines metaphysischen Systems. Erſtes einleitendes Buch. Bei vollendeter Kenntniß aller Theile des materiellen Syſtems,ihrer gegenſeitigen Lage und ihrer Bewegung bleibt es doch durch- aus unbegreiflich, wie einer Anzahl von Kohlenſtoff-, Waſſerſtoff-, Stickſtoff-, Sauerſtoff-Atomen nicht ſollte gleichgiltig ſein, wie ſie liegen und ſich bewegen. Dieſe Unerklärbarkeit des Geiſtigen bleibt ganz ebenſo beſtehen, wenn man dieſe Elemente nach Art der Monaden ſchon einzeln mit Bewußtſein ausſtattet, und von dieſer Annahme aus kann das einheitliche Bewußtſein des Individuums nicht erklärt werden 1). Schon ſein zu beweiſender Satz enthält in dem „nie zu begreifen“ einen Doppelſinn, und dieſer hat im Beweis ſelber ein Hervortreten zweier Argumente von ganz ver- ſchiedener Tragweite neben einander zur Folge. Er behauptet ein- mal, daß der Verſuch, aus materiellen Veränderungen geiſtige Thatſachen abzuleiten (der gegenwärtig als roher Materialismus verſchollen iſt, und nur noch in der Weiſe der Aufnahme pſychi- ſcher Eigenſchaften in die Elemente gemacht wird), die immanente 1) a. a. O. 29. 30. vgl. Räthſel 7. Dieſe Argumentation iſt übrigens
nur ſchlußkräftig, wenn der atomiſtiſchen Mechanik ſozuſagen metaphyſiſche Giltigkeit beigelegt wird. Zu ihrer von Du Bois-R. berührten Geſchichte kann auch die Formulirung bei dem Claſſiker der rationalen Pſychologie, Mendelsſohn, verglichen werden. Z. B. Schriften (Leipzig 1880) I, 277: 1) „Alles was der menſchliche Körper vom Marmorblock Verſchiedenes hat, läßt ſich auf Bewegung zurückführen. Nun iſt die Bewegung nichts Anderes, als die Veränderung des Orts oder der Lage. Es leuchtet in die Augen, daß durch alle möglichen Ortsveränderungen in der Welt, ſie mögen noch ſo zuſammengeſetzt ſein, kein Wahrnehmen dieſer Ortsveränderungen zu er- halten ſei.“ 2) „Alle Materie beſteht aus mehreren Theilen. Wenn die ein- zelnen Vorſtellungen ſo in den Theilen der Seele iſolirt wären wie die Gegenſtände in der Natur, ſo wäre das Ganze nirgends anzutreffen. Wir würden die Eindrücke verſchiedener Sinne nicht vergleichen, die Vorſtellungen nicht gegeneinanderhalten, keine Verhältniſſe wahrnehmen, keine Beziehungen erkennen können. Hieraus iſt klar, daß nicht nur zum Denken, ſondern zum Empfinden Vieles in Einem zuſammenkommen muß. Da aber die Materie niemals ein einziges Subjekt wird u. ſ. w.“ Kant entwickelt dieſen „Achilles aller dialektiſchen Schlüſſe der reinen Seelenlehre“ als zweiten Paralogismus der transſcendentalen Pſychologie. Bei Lotze wurden dieſe „Thaten des beziehenden Wiſſens“ als „nicht zu überwältigender Grund, auf welchem die Ueberzeugung von der Selbſtändigkeit eines Seelen- weſens ſicher beruhen kann“, in mehreren Schriften (zuletzt Metaphyſik 476) ent- wickelt und bilden die Grundlage dieſes Theils ſeines metaphyſiſchen Syſtems. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0039" n="16"/><fw place="top" type="header">Erſtes einleitendes Buch.</fw><lb/> Bei vollendeter Kenntniß aller Theile des materiellen Syſtems,<lb/> ihrer gegenſeitigen Lage und ihrer Bewegung bleibt es doch durch-<lb/> aus unbegreiflich, wie einer Anzahl von Kohlenſtoff-, Waſſerſtoff-,<lb/> Stickſtoff-, Sauerſtoff-Atomen nicht ſollte gleichgiltig ſein, wie ſie<lb/> liegen und ſich bewegen. Dieſe Unerklärbarkeit des Geiſtigen bleibt<lb/> ganz ebenſo beſtehen, wenn man dieſe Elemente nach Art der<lb/> Monaden ſchon einzeln mit Bewußtſein ausſtattet, und von dieſer<lb/> Annahme aus kann das einheitliche Bewußtſein des Individuums<lb/> nicht erklärt werden <note place="foot" n="1)">a. a. O. 29. 30. vgl. Räthſel 7. Dieſe Argumentation iſt übrigens<lb/> nur ſchlußkräftig, wenn der atomiſtiſchen Mechanik ſozuſagen metaphyſiſche<lb/> Giltigkeit beigelegt wird. Zu ihrer von Du Bois-R. berührten Geſchichte<lb/> kann auch die Formulirung bei dem Claſſiker der rationalen Pſychologie,<lb/> Mendelsſohn, verglichen werden. Z. B. Schriften (Leipzig 1880) <hi rendition="#aq">I</hi>, 277:<lb/><hi rendition="#aq">1)</hi> „Alles was der menſchliche Körper vom Marmorblock Verſchiedenes hat,<lb/> läßt ſich auf Bewegung zurückführen. Nun iſt die Bewegung nichts Anderes,<lb/> als die Veränderung des Orts oder der Lage. Es leuchtet in die Augen,<lb/> daß durch alle möglichen Ortsveränderungen in der Welt, ſie mögen noch<lb/> ſo zuſammengeſetzt ſein, kein Wahrnehmen dieſer Ortsveränderungen zu er-<lb/> halten ſei.“ <hi rendition="#aq">2)</hi> „Alle Materie beſteht aus mehreren Theilen. Wenn die ein-<lb/> zelnen Vorſtellungen ſo in den Theilen der Seele iſolirt wären wie die<lb/> Gegenſtände in der Natur, ſo wäre das Ganze nirgends anzutreffen. Wir<lb/> würden die Eindrücke verſchiedener Sinne nicht vergleichen, die Vorſtellungen<lb/> nicht gegeneinanderhalten, keine Verhältniſſe wahrnehmen, keine Beziehungen<lb/> erkennen können. Hieraus iſt klar, daß nicht nur zum Denken, ſondern<lb/> zum Empfinden Vieles in Einem zuſammenkommen muß. Da aber die<lb/> Materie niemals ein einziges Subjekt wird u. ſ. w.“ Kant entwickelt<lb/> dieſen „Achilles aller dialektiſchen Schlüſſe der reinen Seelenlehre“ als<lb/> zweiten Paralogismus der transſcendentalen Pſychologie. Bei Lotze wurden<lb/> dieſe „Thaten des beziehenden Wiſſens“ als „nicht zu überwältigender<lb/> Grund, auf welchem die Ueberzeugung von der Selbſtändigkeit eines Seelen-<lb/> weſens ſicher beruhen kann“, in mehreren Schriften (zuletzt Metaphyſik 476) ent-<lb/> wickelt und bilden die Grundlage dieſes Theils ſeines metaphyſiſchen Syſtems.</note>. Schon ſein zu beweiſender Satz enthält<lb/> in dem „nie zu begreifen“ einen Doppelſinn, und dieſer hat im<lb/> Beweis ſelber ein Hervortreten zweier Argumente von ganz ver-<lb/> ſchiedener Tragweite neben einander zur Folge. Er behauptet ein-<lb/> mal, daß der Verſuch, aus materiellen Veränderungen geiſtige<lb/> Thatſachen abzuleiten (der gegenwärtig als roher Materialismus<lb/> verſchollen iſt, und nur noch in der Weiſe der Aufnahme pſychi-<lb/> ſcher Eigenſchaften in die Elemente gemacht wird), die immanente<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [16/0039]
Erſtes einleitendes Buch.
Bei vollendeter Kenntniß aller Theile des materiellen Syſtems,
ihrer gegenſeitigen Lage und ihrer Bewegung bleibt es doch durch-
aus unbegreiflich, wie einer Anzahl von Kohlenſtoff-, Waſſerſtoff-,
Stickſtoff-, Sauerſtoff-Atomen nicht ſollte gleichgiltig ſein, wie ſie
liegen und ſich bewegen. Dieſe Unerklärbarkeit des Geiſtigen bleibt
ganz ebenſo beſtehen, wenn man dieſe Elemente nach Art der
Monaden ſchon einzeln mit Bewußtſein ausſtattet, und von dieſer
Annahme aus kann das einheitliche Bewußtſein des Individuums
nicht erklärt werden 1). Schon ſein zu beweiſender Satz enthält
in dem „nie zu begreifen“ einen Doppelſinn, und dieſer hat im
Beweis ſelber ein Hervortreten zweier Argumente von ganz ver-
ſchiedener Tragweite neben einander zur Folge. Er behauptet ein-
mal, daß der Verſuch, aus materiellen Veränderungen geiſtige
Thatſachen abzuleiten (der gegenwärtig als roher Materialismus
verſchollen iſt, und nur noch in der Weiſe der Aufnahme pſychi-
ſcher Eigenſchaften in die Elemente gemacht wird), die immanente
1) a. a. O. 29. 30. vgl. Räthſel 7. Dieſe Argumentation iſt übrigens
nur ſchlußkräftig, wenn der atomiſtiſchen Mechanik ſozuſagen metaphyſiſche
Giltigkeit beigelegt wird. Zu ihrer von Du Bois-R. berührten Geſchichte
kann auch die Formulirung bei dem Claſſiker der rationalen Pſychologie,
Mendelsſohn, verglichen werden. Z. B. Schriften (Leipzig 1880) I, 277:
1) „Alles was der menſchliche Körper vom Marmorblock Verſchiedenes hat,
läßt ſich auf Bewegung zurückführen. Nun iſt die Bewegung nichts Anderes,
als die Veränderung des Orts oder der Lage. Es leuchtet in die Augen,
daß durch alle möglichen Ortsveränderungen in der Welt, ſie mögen noch
ſo zuſammengeſetzt ſein, kein Wahrnehmen dieſer Ortsveränderungen zu er-
halten ſei.“ 2) „Alle Materie beſteht aus mehreren Theilen. Wenn die ein-
zelnen Vorſtellungen ſo in den Theilen der Seele iſolirt wären wie die
Gegenſtände in der Natur, ſo wäre das Ganze nirgends anzutreffen. Wir
würden die Eindrücke verſchiedener Sinne nicht vergleichen, die Vorſtellungen
nicht gegeneinanderhalten, keine Verhältniſſe wahrnehmen, keine Beziehungen
erkennen können. Hieraus iſt klar, daß nicht nur zum Denken, ſondern
zum Empfinden Vieles in Einem zuſammenkommen muß. Da aber die
Materie niemals ein einziges Subjekt wird u. ſ. w.“ Kant entwickelt
dieſen „Achilles aller dialektiſchen Schlüſſe der reinen Seelenlehre“ als
zweiten Paralogismus der transſcendentalen Pſychologie. Bei Lotze wurden
dieſe „Thaten des beziehenden Wiſſens“ als „nicht zu überwältigender
Grund, auf welchem die Ueberzeugung von der Selbſtändigkeit eines Seelen-
weſens ſicher beruhen kann“, in mehreren Schriften (zuletzt Metaphyſik 476) ent-
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