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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.
Drehung der Himmelskugel auf einen ersten Beweger derselben
von keinem ernsthaften Forscher verworfen worden, wenn
auch der Grad seiner Evidenz der Untersuchung unterzogen
wurde; alle anderen Glaubenswahrheiten dagegen verfielen mehr
oder minder der Diskussion. -- Seit dem Jahre 1240 war De-
zennien hindurch die kirchliche Autorität im Kampfe mit einer Partei
der pariser Universität, welche extreme Folgerungen der averroi-
stischen Lehre ausbreitete. So wurde innerhalb der Universität die
Ewigkeit der Welt vertheidigt, da der "erste Anfang" als ein
Mirakel den nothwendigen Zusammenhang der Wissenschaft durch-
brach; die Schöpfung aus Nichts wurde angegriffen als mit den
Anforderungen der Wissenschaft unverträglich; die Annahme eines
ersten elternlosen Menschen wurde verworfen, und mit dem ersten
leugnete man auch die letzten Menschen und sonach das jüngste
Gericht. Der Mittelpunkt dieser skeptischen Bewegung lag in der
Bestreitung der Fortdauer der Einzelseele, da dieselbe aus der
Lehre von den substantialen Formen nicht gefolgert werden kann.
Aus diesen Voraussetzungen folgte dann das kecke Wort: quod
sermones theologi sunt fundati in fabulis
, und ihm entsprach
ein anderes: quod sapientes mundi sunt philosophi tantum.
Aber unter allen Sätzen, welche damals unter Studenten und
Lehrern der pariser Universität umliefen und der kirchlichen Censur
unterworfen wurden, findet sich keiner, welcher das Dasein Gottes
in Frage gezogen hätte. -- Ein zweiter Herd des skeptischen Geistes
war während des dreizehnten Jahrhunderts 1) der Hof Friedrichs
des Zweiten im Süden. Der abergläubische Sinn des niederen
Volkes umgab die gedankenmächtige Gestalt des großen Kaisers
mit Erzählungen, in welchen als das Auffälligste sein Skepticismus
und seine Neigung zu experimenteller Beantwortung solcher Fragen
hervortritt, die man syllogistischen Erörterungen zu überlassen ge-
wohnt war. Wollte man doch wissen, er habe Menschen den

1) Die Chronica Fr. Salimbene Parmensis (Parmae 1857) spricht p. 169
von der destructio credulitatis Friderici et sapientum suorum, qui credi-
derunt, quod non esset alia vita, nisi praesens, ut liberius carnalitatibus
suis et miseriis vacare possent. ideo fuerunt epycurei ...

Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.
Drehung der Himmelskugel auf einen erſten Beweger derſelben
von keinem ernſthaften Forſcher verworfen worden, wenn
auch der Grad ſeiner Evidenz der Unterſuchung unterzogen
wurde; alle anderen Glaubenswahrheiten dagegen verfielen mehr
oder minder der Diskuſſion. — Seit dem Jahre 1240 war De-
zennien hindurch die kirchliche Autorität im Kampfe mit einer Partei
der pariſer Univerſität, welche extreme Folgerungen der averroi-
ſtiſchen Lehre ausbreitete. So wurde innerhalb der Univerſität die
Ewigkeit der Welt vertheidigt, da der „erſte Anfang“ als ein
Mirakel den nothwendigen Zuſammenhang der Wiſſenſchaft durch-
brach; die Schöpfung aus Nichts wurde angegriffen als mit den
Anforderungen der Wiſſenſchaft unverträglich; die Annahme eines
erſten elternloſen Menſchen wurde verworfen, und mit dem erſten
leugnete man auch die letzten Menſchen und ſonach das jüngſte
Gericht. Der Mittelpunkt dieſer ſkeptiſchen Bewegung lag in der
Beſtreitung der Fortdauer der Einzelſeele, da dieſelbe aus der
Lehre von den ſubſtantialen Formen nicht gefolgert werden kann.
Aus dieſen Vorausſetzungen folgte dann das kecke Wort: quod
sermones theologi sunt fundati in fabulis
, und ihm entſprach
ein anderes: quod sapientes mundi sunt philosophi tantum.
Aber unter allen Sätzen, welche damals unter Studenten und
Lehrern der pariſer Univerſität umliefen und der kirchlichen Cenſur
unterworfen wurden, findet ſich keiner, welcher das Daſein Gottes
in Frage gezogen hätte. — Ein zweiter Herd des ſkeptiſchen Geiſtes
war während des dreizehnten Jahrhunderts 1) der Hof Friedrichs
des Zweiten im Süden. Der abergläubiſche Sinn des niederen
Volkes umgab die gedankenmächtige Geſtalt des großen Kaiſers
mit Erzählungen, in welchen als das Auffälligſte ſein Skepticismus
und ſeine Neigung zu experimenteller Beantwortung ſolcher Fragen
hervortritt, die man ſyllogiſtiſchen Erörterungen zu überlaſſen ge-
wohnt war. Wollte man doch wiſſen, er habe Menſchen den

1) Die Chronica Fr. Salimbene Parmensis (Parmae 1857) ſpricht p. 169
von der destructio credulitatis Friderici et sapientum suorum, qui credi-
derunt, quod non esset alia vita, nisi praesens, ut liberius carnalitatibus
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[386/0409] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. Drehung der Himmelskugel auf einen erſten Beweger derſelben von keinem ernſthaften Forſcher verworfen worden, wenn auch der Grad ſeiner Evidenz der Unterſuchung unterzogen wurde; alle anderen Glaubenswahrheiten dagegen verfielen mehr oder minder der Diskuſſion. — Seit dem Jahre 1240 war De- zennien hindurch die kirchliche Autorität im Kampfe mit einer Partei der pariſer Univerſität, welche extreme Folgerungen der averroi- ſtiſchen Lehre ausbreitete. So wurde innerhalb der Univerſität die Ewigkeit der Welt vertheidigt, da der „erſte Anfang“ als ein Mirakel den nothwendigen Zuſammenhang der Wiſſenſchaft durch- brach; die Schöpfung aus Nichts wurde angegriffen als mit den Anforderungen der Wiſſenſchaft unverträglich; die Annahme eines erſten elternloſen Menſchen wurde verworfen, und mit dem erſten leugnete man auch die letzten Menſchen und ſonach das jüngſte Gericht. Der Mittelpunkt dieſer ſkeptiſchen Bewegung lag in der Beſtreitung der Fortdauer der Einzelſeele, da dieſelbe aus der Lehre von den ſubſtantialen Formen nicht gefolgert werden kann. Aus dieſen Vorausſetzungen folgte dann das kecke Wort: quod sermones theologi sunt fundati in fabulis, und ihm entſprach ein anderes: quod sapientes mundi sunt philosophi tantum. Aber unter allen Sätzen, welche damals unter Studenten und Lehrern der pariſer Univerſität umliefen und der kirchlichen Cenſur unterworfen wurden, findet ſich keiner, welcher das Daſein Gottes in Frage gezogen hätte. — Ein zweiter Herd des ſkeptiſchen Geiſtes war während des dreizehnten Jahrhunderts 1) der Hof Friedrichs des Zweiten im Süden. Der abergläubiſche Sinn des niederen Volkes umgab die gedankenmächtige Geſtalt des großen Kaiſers mit Erzählungen, in welchen als das Auffälligſte ſein Skepticismus und ſeine Neigung zu experimenteller Beantwortung ſolcher Fragen hervortritt, die man ſyllogiſtiſchen Erörterungen zu überlaſſen ge- wohnt war. Wollte man doch wiſſen, er habe Menſchen den 1) Die Chronica Fr. Salimbene Parmensis (Parmae 1857) ſpricht p. 169 von der destructio credulitatis Friderici et sapientum suorum, qui credi- derunt, quod non esset alia vita, nisi praesens, ut liberius carnalitatibus suis et miseriis vacare possent. ideo fuerunt epycurei …

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 386. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/409>, abgerufen am 22.11.2024.