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Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883.

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Zweites Buch. Dritter Abschnitt.

Der Grund dieser Thatsache, daß der metaphysische
Geist des Mittelalters an der Evidenz des Daseins Gottes einen
unerschütterlichen Stützpunkt hatte, während keine andere Glau-
benswahrheit von dem Zweifel unberührt blieb, kann nicht in der
Macht religiöser Ueberzeugungen gefunden werden; denn diese
waren, wie wir eben sahen, vielfach erschüttert. Er lag nicht in
der Tradition des Zusammenhangs der Weltgeschichte, die an
Gott mit ihrem Beginn und Schluß gebunden war; denn so
wichtig diese für das Lebensgefühl und die Denkart des mittel-
alterlichen Menschen gewesen ist, so ward sie doch von kühnen
Geistern wenigstens dem Zweifel, wenn auch noch nicht der Unter-
suchung unterworfen. Am wenigsten können wir ihn in dem
ontologischen Argumente finden; denn die Kraft desselben wurde
von den hervorragendsten gläubigen Forschern bestritten. Er lag
in dem Schluß, welcher auf Grund des damaligen Standes des
Naturwissens von den regelmäßigen, harmonisch ineinandergreifen-
den Bahnen der Gestirne sowie von der die Formen der Natur
durchwaltenden Zweckmäßigkeit auf Gott zurückging. Dieser Schluß
tritt nicht als ein einzelnes Argument auf, sondern bildet, wie bei
Aristoteles, den Zusammenhang der ganzen Naturansicht. Wol
haben die Scholastiker dieses Zeitraums zuerst eine geschlossene Zahl
von einander unabhängiger Einzelbeweise für das Dasein Gottes
aufgestellt, auch hat sich wenigstens die Unterscheidung des kosmo-
logischen und des teleologischen (physiko-theologischen) Beweises
in der Schulmetaphysik erhalten; doch nicht in dieser zersplitterten
schulmäßigen Fassung lag die Macht der Gründe, die von der
Welt auf Gott schließen, über den mittelalterlichen Geist 1).


Klöstern vgl. Thomas de Eccleston de adventu fratrum minorum in
Angliam (Monum. Francisc. Lond. 1858) p. 50: cum ex duobus parie-
tibus construatur aedificium Ordinis, scilicet moribus bonis et scientia,
parietem scientiae fecerunt fratres ultra coelos et coelestia sublimem, in
tantum, ut quaererent an Deus sit.
1) An der Spitze der summa theologiae des Thomas steht p. I quaest.
2 de Deo, an Deus sit (quaest.
1 behandelt nur den Begriff der christlichen
Wissenschaft); im dritten Artikel derselben werden fünf Einzelbeweise gesondert:
aus der Bewegung, aus der Verkettung der Ursachen und Wirkungen, aus
Zweites Buch. Dritter Abſchnitt.

Der Grund dieſer Thatſache, daß der metaphyſiſche
Geiſt des Mittelalters an der Evidenz des Daſeins Gottes einen
unerſchütterlichen Stützpunkt hatte, während keine andere Glau-
benswahrheit von dem Zweifel unberührt blieb, kann nicht in der
Macht religiöſer Ueberzeugungen gefunden werden; denn dieſe
waren, wie wir eben ſahen, vielfach erſchüttert. Er lag nicht in
der Tradition des Zuſammenhangs der Weltgeſchichte, die an
Gott mit ihrem Beginn und Schluß gebunden war; denn ſo
wichtig dieſe für das Lebensgefühl und die Denkart des mittel-
alterlichen Menſchen geweſen iſt, ſo ward ſie doch von kühnen
Geiſtern wenigſtens dem Zweifel, wenn auch noch nicht der Unter-
ſuchung unterworfen. Am wenigſten können wir ihn in dem
ontologiſchen Argumente finden; denn die Kraft deſſelben wurde
von den hervorragendſten gläubigen Forſchern beſtritten. Er lag
in dem Schluß, welcher auf Grund des damaligen Standes des
Naturwiſſens von den regelmäßigen, harmoniſch ineinandergreifen-
den Bahnen der Geſtirne ſowie von der die Formen der Natur
durchwaltenden Zweckmäßigkeit auf Gott zurückging. Dieſer Schluß
tritt nicht als ein einzelnes Argument auf, ſondern bildet, wie bei
Ariſtoteles, den Zuſammenhang der ganzen Naturanſicht. Wol
haben die Scholaſtiker dieſes Zeitraums zuerſt eine geſchloſſene Zahl
von einander unabhängiger Einzelbeweiſe für das Daſein Gottes
aufgeſtellt, auch hat ſich wenigſtens die Unterſcheidung des kosmo-
logiſchen und des teleologiſchen (phyſiko-theologiſchen) Beweiſes
in der Schulmetaphyſik erhalten; doch nicht in dieſer zerſplitterten
ſchulmäßigen Faſſung lag die Macht der Gründe, die von der
Welt auf Gott ſchließen, über den mittelalterlichen Geiſt 1).


Klöſtern vgl. Thomas de Eccleſton de adventu fratrum minorum in
Angliam (Monum. Francisc. Lond. 1858) p. 50: cum ex duobus parie-
tibus construatur aedificium Ordinis, scilicet moribus bonis et scientia,
parietem scientiae fecerunt fratres ultra coelos et coelestia sublimem, in
tantum, ut quaererent an Deus sit.
1) An der Spitze der summa theologiae des Thomas ſteht p. I quaest.
2 de Deo, an Deus sit (quaest.
1 behandelt nur den Begriff der chriſtlichen
Wiſſenſchaft); im dritten Artikel derſelben werden fünf Einzelbeweiſe geſondert:
aus der Bewegung, aus der Verkettung der Urſachen und Wirkungen, aus
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[388/0411] Zweites Buch. Dritter Abſchnitt. Der Grund dieſer Thatſache, daß der metaphyſiſche Geiſt des Mittelalters an der Evidenz des Daſeins Gottes einen unerſchütterlichen Stützpunkt hatte, während keine andere Glau- benswahrheit von dem Zweifel unberührt blieb, kann nicht in der Macht religiöſer Ueberzeugungen gefunden werden; denn dieſe waren, wie wir eben ſahen, vielfach erſchüttert. Er lag nicht in der Tradition des Zuſammenhangs der Weltgeſchichte, die an Gott mit ihrem Beginn und Schluß gebunden war; denn ſo wichtig dieſe für das Lebensgefühl und die Denkart des mittel- alterlichen Menſchen geweſen iſt, ſo ward ſie doch von kühnen Geiſtern wenigſtens dem Zweifel, wenn auch noch nicht der Unter- ſuchung unterworfen. Am wenigſten können wir ihn in dem ontologiſchen Argumente finden; denn die Kraft deſſelben wurde von den hervorragendſten gläubigen Forſchern beſtritten. Er lag in dem Schluß, welcher auf Grund des damaligen Standes des Naturwiſſens von den regelmäßigen, harmoniſch ineinandergreifen- den Bahnen der Geſtirne ſowie von der die Formen der Natur durchwaltenden Zweckmäßigkeit auf Gott zurückging. Dieſer Schluß tritt nicht als ein einzelnes Argument auf, ſondern bildet, wie bei Ariſtoteles, den Zuſammenhang der ganzen Naturanſicht. Wol haben die Scholaſtiker dieſes Zeitraums zuerſt eine geſchloſſene Zahl von einander unabhängiger Einzelbeweiſe für das Daſein Gottes aufgeſtellt, auch hat ſich wenigſtens die Unterſcheidung des kosmo- logiſchen und des teleologiſchen (phyſiko-theologiſchen) Beweiſes in der Schulmetaphyſik erhalten; doch nicht in dieſer zerſplitterten ſchulmäßigen Faſſung lag die Macht der Gründe, die von der Welt auf Gott ſchließen, über den mittelalterlichen Geiſt 1). 3) 1) An der Spitze der summa theologiae des Thomas ſteht p. I quaest. 2 de Deo, an Deus sit (quaest. 1 behandelt nur den Begriff der chriſtlichen Wiſſenſchaft); im dritten Artikel derſelben werden fünf Einzelbeweiſe geſondert: aus der Bewegung, aus der Verkettung der Urſachen und Wirkungen, aus 3) Klöſtern vgl. Thomas de Eccleſton de adventu fratrum minorum in Angliam (Monum. Francisc. Lond. 1858) p. 50: cum ex duobus parie- tibus construatur aedificium Ordinis, scilicet moribus bonis et scientia, parietem scientiae fecerunt fratres ultra coelos et coelestia sublimem, in tantum, ut quaererent an Deus sit.

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Zitationshilfe: Dilthey, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Bd. 1. Leipzig, 1883, S. 388. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/dilthey_geisteswissenschaften_1883/411>, abgerufen am 22.11.2024.